Mein Leben
alles von Kleist und Büchner, sämtliche Novellen von Gottfried Keller und Theodor Storm, einige der großen und meist umfangreichen Romane von Tolstoj und Dostojewski, von Balzac, Stendhal und Flaubert. Ich las die Skandinavier, zumal Jens Peter Jacobsen und Knut Hamsun, den ganzen Edgar Allan Poe, den ich bewunderte, und den ganzen Oscar Wilde, der mich begeisterte, und sehr viel Maupassant, der mich amüsierte und anregte.
Wahrscheinlich war diese Lektüre oft flüchtig, gewiß habe ich vieles nicht verstanden. Dennoch: Wie war das möglich? Kannte ich etwa eine Methode, besonders schnell zu lesen? Durchaus nicht – und ich kenne eine solche Methode bis heute nicht. Im Gegenteil, ob damals oder jetzt, ich lese beinahe immer langsam. Denn wenn mir ein Text gefällt, wenn er wirklich gut ist, dann genieße ich jeden Satz, und das nimmt viel Zeit in Anspruch. Und wenn mir der Text mißfällt? Dann langweile ich mich, kann mich nicht recht konzentrieren und merke plötzlich, daß ich eine ganze Seite kaum verstanden habe und sie noch einmal lesen muß. Ob gut oder schlecht – es geht nur langsam voran.
Es waren wohl ganz andere Umstände, die die Quantität der von mir in meiner Jugend bewältigten Literatur ermöglicht hatten: Ich konnte täglich stundenlang lesen, weil ich die Schularbeiten sehr schnell erledigte: Ich widmete ihnen nur soviel Zeit, wie unbedingt erforderlich war, um die Note »Genügend« zu erhalten. So vernachlässigte ich die Naturwissenschaften und leider auch die Fremdsprachen. Der Sport nahm, was bestimmt nicht richtig war, nur wenig Zeit in Anspruch. In einer Tanzschule war ich auch nicht, was ich sehr bedauere – jedenfalls habe ich das Tanzen nie erlernt.
Meine Lektüre wurde nicht nur von der Schule und vom Theater geprägt, sondern auch, wie sonderbar das anmuten mag, von der nationalsozialistischen Kulturpolitik. Die umfangreichen gedruckten Kataloge der städtischen Bibliotheken wurden weiterhin verwendet, nur hatte man die aus dem Verkehr gezogenen Bücher mit roter Tinte ausgemerzt: Die Namen und Titel von Juden, Kommunisten, Sozialisten, Pazifisten, Antifaschisten und Emigranten jeglicher Art waren zwar gestrichen, indes weiterhin mühelos lesbar, also die Namen von Thomas, Heinrich und Klaus Mann, Döblin, Schnitzler und Werfel, Sternheim, Zuckmayer und Joseph Roth, Lion Feuchtwanger, Arnold und Stefan Zweig, Brecht, Horváth und Becher, der Seghers und der Lasker-Schüler, Bruno und Leonhard Frank, Tucholsky, Kerr, Polgar und Kisch und von vielen anderen Autoren.
Allerdings fällt mir auf, daß ich damals einen Namen von höchster Bedeutung überhaupt nicht gehört hatte: Franz Kafka. Von der sechsbändigen Ausgabe seiner »Gesammelten Werke« konnten noch 1935 vier Bände in Berlin, in einem jüdischen Verlag, erscheinen, die beiden letzten hingegen wurden 1937 (da man selbstverständlich auch Kafka auf die »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums« gesetzt hat) in Prag publiziert. Aber allem Anschein nach hat niemand in meiner Umgebung Kafka gekannt. Noch war er ein Geheimtip.
Die vielen roten Striche waren mir sehr willkommen: Nun wußte ich, was ich zu lesen hatte. Allerdings mußte ich mir diese unerwünschten und verbotenen Bücher erst noch beschaffen. Das war aber nicht sonderlich schwer. Bei den Bücherverbrennungen im Mai 1933 wurden allein in Berlin angeblich rund 20000 Bände in die Flammen geworfen – sie stammten vorwiegend aus Bibliotheken. In anderen Städten war die Zahl der vernichteten Bücher wohl kleiner.
Wie auch immer: Der unzweifelhaft improvisierten Aktion, die vor allem symbolisch gemeint war, fiel naturgemäß nur ein Teil der geächteten Bücher zum Opfer. Viele blieben erhalten: in Buchhandlungen, in Verlagsmagazinen, in Privatwohnungen. Die meisten landeten früher oder später in Berliner Antiquariaten, wo sie natürlich nicht in den Schaufenstern oder auf den Ladentischen zu finden waren. Doch wurden sie vom Antiquar, zumal wenn er den Kunden schon kannte, gern hervorgeholt und waren billig erhältlich. Überdies gab es bei meinen Verwandten und bei den Bekannten meiner Eltern, wie in bürgerlichen Familien üblich, Bücherschränke und in ihnen nicht wenige ebenjener Bücher, die nunmehr in den offiziellen Katalogen durchgestrichen waren.
Auch bei meinem Onkel Max, dem lustigen Patentanwalt, der nicht aufhören konnte zu glauben, das »Dritte Reich« werde alsbald, vielleicht schon im kommenden Jahr kläglich
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