Mein Leben
nicht gespielt werden, »Dantons Tod« (jedenfalls in Berlin) erst während des Krieges. Gerade im »Danton« gibt es vieles, was auf das »Dritte Reich« bezogen werden konnte, ja bezogen werden mußte.
Auch bei meinen anderen Vorschlägen war der Assessor mißtrauisch: Von Lessing wollte er nichts wissen (vor allem des »Nathan« wegen), auch Hebbel war ihm nicht recht, denn die jüdisch-biblischen Dramen (»Judith« und »Herodes und Mariamne«) galten als »inopportun«, Grillparzers »Jüdin von Toledo« kam ebenfalls nicht in Frage. Nach langem Hin und Her akzeptierte er den jungen Gerhart Hauptmann. Unmittelbar vor der Prüfung erhielt man einen Zettel mit der Frage, über die man referieren sollte. Dann hatte man eine halbe Stunde Zeit, um sich in einem abgeschlossenen Zimmer vorzubereiten. Auf meinem Zettel stand eine These von Arno Holz: ›»Die Kunst hat die Tendenz, wieder die Natur zu sein. Sie wird sie nach Maßgabe ihrer jeweiligen Reproduktionsbedingungen und deren Handhabung.‹ (Leiten Sie hieraus die Wesensbestimmung des Naturalismus ab.)« Wie man sieht, war das Fichte-Gymnasium eine sehr anspruchsvolle Schule. Aber dem Deutschlehrer schien die mir gestellte Aufgabe doch zu abstrakt. Daher hat er noch handschriftlich hinzugefügt: »G. Hauptmann als naturalist. Dichter. (Vor Sonnenaufgang, Einsame Menschen, Weber).«
Dieser Zettel hat mich weder überrascht noch eingeschüchtert. Aber kaum hatte ich einige einleitende Sätze gesagt, kaum mich über »Vor Sonnenaufgang« geäußert, da wurde ich von unserem Direktor, dem »Goldfasan« Heiniger, der als kommissarischer Prüfungsleiter amtierte, energisch unterbrochen. Er wollte wissen, wie das Verhältnis des Nationalsozialismus zu Hauptmann sei. Auf diese Frage war ich nicht gefaßt.
Ich hätte darauf hinweisen können, daß aus Anlaß seines nur wenige Monate zurückliegenden fünfundsiebzigsten Geburtstags Hauptmann im ganzen Reich ausgiebig gefeiert worden war – von allen staatlichen Bühnen und auch von anderen Theatern.
Es wäre auch möglich gewesen, Äußerungen von Würdenträgern des »Dritten Reichs« zu zitieren, denen doch zu entnehmen war, daß man ihn haben wollte und von Zeit zu Zeit hofierte. Aber das alles habe ich nicht gesagt – sei es, daß es mir nicht gleich einfiel, sei es, daß ich befürchtete, solche Antworten könnten den kommissarischen Prüfungsleiter verärgern. Statt dessen erklärte ich knapp, das »Dritte Reich« schätze es ganz besonders, daß Hauptmann in den Mittelpunkt seines Werks die soziale Frage gestellt habe. Danach wollte man nichts mehr von mir hören: Ich wurde mit einem unfreundlich klingenden »Danke« entlassen. Sollte der »Goldfasan« meine Antwort für Ironie gehalten haben?
Im Abiturzeugnis habe ich in Deutsch nicht, wie in den vorangegangenen Jahren, die Note »Sehr gut« erhalten, sondern nur »Gut«. Der Germanist Doktor Beck hat mir später vertraulich erzählt, der Prüfungsleiter habe eine Diskussion über meine Leistungen gar nicht zugelassen, sondern erklärt, aus Gründen, die mit dem Unterricht nichts zu tun hätten, sei bei diesem Schüler (das sollte heißen: bei einem Juden) die Note »Sehr gut« für Deutsch nicht angebracht.
Beschämt gebe ich zu, daß ich enttäuscht und tatsächlich erbost war. Die Entscheidung des »Goldfasans« war kleinlich, aber meine Reaktion darauf lächerlich. Das Ganze eine Lappalie? Ja, doch eine aufschlußreiche. Sie läßt erkennen, daß ich noch nach dem Abitur im stillen hoffte, es werde mir möglich sein, mich auf einen Beruf vorzubereiten, der wenigstens etwas mit Literatur zu tun habe.
Nie habe ich mehr gelesen als in der Gymnasialzeit. In jedem Berliner Bezirk gab es eine städtische Bibliothek – und sie waren allesamt recht gut ausgestattet. Wer an Literatur interessiert war, konnte dort alles finden, was er begehrte, auch die Bücher der zeitgenössischen, der allerneuesten Autoren. Allerdings durfte man nicht mehr als zwei Bände gleichzeitig ausleihen. Das reichte mir nicht, aber die Schwierigkeit war leicht zu umgehen: Ich ließ mich in zwei Stadtbibliotheken eintragen, der von Schöneberg und der von Wilmersdorf.
Ich kann mich ziemlich genau erinnern, was ich, als ich im Herbst 1938 aus Deutschland deportiert wurde, von der Weltliteratur kannte. Ich vermag es heute nicht mehr zu erklären, wie ich es schaffen konnte, innerhalb von fünf, sechs Jahren alle Dramen von Schiller und die meisten von Shakespeare zu lesen, nahezu
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