Mein Leben
Schwager Böhm, ohne sich auf irgendwelche Einleitungen einzulassen, einen in dieser Zeitung erschienenen längeren Beitrag. Der Titel lautete, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht: »Bankrotterklärung eines Emigranten«. Es war Kurt Tucholskys an Arnold Zweig gerichteter Brief vom 15. Dezember 1935, ein Abschiedsbrief.
Zunächst waren wir verblüfft und sehr bald entsetzt. Wir wollten es nicht glauben: Der Brief dokumentierte den Ausbruch einer offenbar seit vielen Jahren angestauten Wut gegen die deutsche Linke und gegen die deutschen Juden. Diese unerbittlichen und stellenweise auch haßerfüllten Äußerungen, die hier und da in bare Beschimpfungen übergingen, sollten wirklich von Tucholsky stammen? Doch bald schwand unser Mißtrauen. Denn sein Stil war unverkennbar: Das SS-Blatt hatte, wie sich später herausstellte, diesen Brief gekürzt und verstümmelt und mit höhnischen Zwischentiteln versehen – gefälscht war der Text nicht. Ja, der Emigrant Tucholsky hatte tatsächlich mit Abscheu und Widerwillen über die Juden geschrieben und mitunter sogar primitive und böswillige antisemitische Klischees verwendet.
Daß seine Auseinandersetzung mit den Juden eine schmerzhafte Selbstauseinandersetzung war, daran zweifelten wir nicht: Diesen Brief hatte ein Mann geschrieben, in dessen Leben das Leiden am Judentum und ein unheimlicher Selbsthaß eine wichtige, wahrscheinlich die entscheidende Rolle gespielt hatten. Wir wußten auch, daß er wenige Tage nach diesem Brief Selbstmord verübt hatte. Was wir allerdings nicht wußten: Er hatte sich im Exil mit aller Entschiedenheit von seinen politischen Idealen losgesagt und sich religiösen Gedanken, genauer, der Welt des Katholizismus zugewandt, ja sich von dieser Welt faszinieren lassen. Und wir wußten nicht, daß er damals ein schwer, wohl ein unheilbar kranker Mann war.
Erschüttert verließen wir, Bewunderer Kurt Tucholskys, die herrschaftliche, etwas düstere Wohnung in Berlin-Grunewald. Während wir dort, unmittelbar nach der Lesung, über den Brief diskutiert, richtiger gesagt: zu diskutieren versucht hatten, aber im Grunde ratlos dies und jenes stammelten, blieben wir auf der Straße stumm. Jeder war mit seinen Gedanken beschäftigt. Dann trennten sich unsere Wege, einige stiegen in die Straßenbahn ein, ich wollte zu Fuß gehen, um allein zu bleiben.
Sollte man diesem Brief – so fragte ich mich – ungleich mehr entnehmen als den Zusammenbruch eines großen deutschen Schriftstellers unseres Jahrhunderts? Ich ging schnell, beinahe hastig. Hatte ich es so eilig, nach Hause zu kommen? Oder wollte ich mich möglichst rasch von dem Ort entfernen, an dem eine Lesung überraschend zu einem schrecklichen Erlebnis geworden war? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß sehr wohl, was ich damals, auf dem Nachhauseweg in Richtung Haiensee, spürte: Angst, nahezu panische Angst vor dem, was uns wahrscheinlich bevorstand.
Der andere mir unvergeßliche Abend war im Februar 1937. Es war ein kühler, ein trüber, ein regnerischer Tag. Wir trafen uns in derselben Wohnung in Grunewald, doch war der Kreis jetzt kleiner, wohl aus konspirativen Gründen: Nur sieben oder acht Personen waren eingeladen worden. Der Wohnungsinhaber, von dem wir wußten, daß er über allerlei Kontakte in Deutschland und im Ausland verfügte, hatte uns den Zweck des Treffens vorsichtshalber auch diesmal nicht mitgeteilt. Er schaltete das Licht ab und ließ nur eine Stehlampe neben dem Stuhl meines Schwagers brennen. Ihm gab er ein kleines Päckchen Papier, besonders dünn und beidseitig beschrieben.
Alle schwiegen, in dem halbdunklen Zimmer war es etwas unheimlich. Ich dachte an die ein Jahr zurückliegende Lesung des Briefes von Tucholsky und fragte mich ängstlich, was denn jetzt zu erwarten sei. Mein Schwager las ein Prosastück vor, das offenbar illegal nach Berlin gelangt war. Wieder war es ein Brief, geschrieben von einem Schriftsteller im Exil: von Thomas Mann – der Brief, mit dem er auf die Aberkennung der ihm einst verliehenen Ehrendoktorwürde der Universität Bonn antwortete.
Wenn die Zeitungen des »Dritten Reichs« gegen die emigrierten Autoren hetzten – und das geschah nicht selten –, wurde fast immer Heinrich Mann genannt und attackiert, sein Bruder Thomas jedoch in der Regel geschont. Ich hatte damals schon viel von beiden gelesen. Heinrich Mann habe ich geschätzt, zumal seinen »Professor Unrat« und den »Untertan«. Aber Thomas Mann habe ich nach der Lektüre der
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