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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Schwester, die Anfang der dreißiger Jahre ihr Studium in Warschau abgebrochen hatte und nach Berlin gekommen war, lernte Gerhard Böhm kennen, einen deutschen Juden, dessen ich – er ist längst tot – dankbar gedenke. Denn er, der bald mein Schwager wurde, gehörte zu den wenigen Menschen, die sich in meiner Jugend um meine Bildung, zumal die literarische, gekümmert haben. Er betätigte sich als Export-Kaufmann, aber im Grunde hatte er keinen Beruf. Das Geldverdienen war, um es vorsichtig auszudrücken, seine starke Seite nicht. Damit und vielleicht auch mit der Tatsache, daß er ziemlich klein war, mochte es zusammenhängen, daß er gern prahlte. So erzählte er – sehr anschaulich – von seinen vielen Weltreisen; nur hatte er sie nie gemacht. Gern rühmte er sich, in der Weimarer Republik unter einem Pseudonym für die »Weltbühne« geschrieben zu haben – auch das war eine freie Erfindung.
    Doch dieser Gerhard Böhm, ein kleiner Mann und ein großer Angeber, war ein liebenswerter Mensch, intelligent und redegewandt. Was er mir in langen Gesprächen erzählte, zeigte mir, daß das Unterhaltsame belehrend sein kann und daß das Belehrende nicht aufdringlich sein muß. In der Literatur, vor allem in der neueren deutschen Literatur, kannte er sich glänzend aus, und überdies war er, wie seine (viel später geschriebenen) langen Briefe bewiesen, ein guter Stilist.
    Auf meine Lektüre hat er einen wichtigen und nachhaltigen Einfluß ausgeübt. Er liebte Kurt Tucholsky und hatte nicht nur dessen Bücher gesammelt, sondern auch die (auf seinem Regal hinter harmlosen Bänden versteckten) kleinen roten Hefte: die »Weltbühne«, von der ich in seiner Wohnung mindestens zehn Jahrgänge gefunden habe. Ihm verdanke ich meine frühe Liebe zu Tucholsky.
    Er, der Freund und Schwager Gerhard Böhm, war auch der einzige Mensch in meiner Umgebung, den mein ständiges Bücherlesen nicht nur interessierte und freute, sondern auch beunruhigte. Er befürchtete, daß ich, der ich damals fünfzehn, sechzehn Jahre alt war, von der Literatur bezaubert, das Leben vernachlässigen könne. Mehr als einmal berief er sich auf den alten Spruch »Primum vivere, deinde philosophari« (»Zuerst leben, dann erst philosophieren«). Er sah bei mir die Gefahr, das Intellektuelle könne alles andere verdrängen. Als er mir Friedrich Gundolfs Goethe-Monographie schenkte (die mich übrigens sehr enttäuschte), hat er in das Buch als Widmung ein weises, ein herrliches Wort aus dem »Faust« geschrieben:
     
    Ich sag es dir: ein Kerl, der spekuliert,
    Ist wie ein Tier, auf dürrer Heide
    Von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt,
    Und ringsumher liegt schöne, grüne Weide.
     
    In der Weimarer Republik hatte sich mein Schwager politisch engagiert. Er gehörte zeitweise der KPD an, galt dort bald, gewiß zu Recht, als Trotzkist und wurde aus der Partei ausgeschlossen – zu seinem Glück, denn wahrscheinlich hat ihn dieser Umstand vor der Verhaftung im »Dritten Reich« bewahrt. Er war es auch, der mich – natürlich bloß in groben Zügen – über den Kommunismus belehrte und mir allerlei über die sowjetische Kunst, über Lenin und vor allem über Leo Trotzki erzählte. Durch ihn lernte ich einige blasse und einsilbige Menschen kennen, die neue, aber unverkennbar billige Anzüge trugen. Es waren seine alten Bekannten, Kommunisten, die man gerade aus dem Gefängnis oder aus dem Konzentrationslager entlassen hatte.
    Erst viel später erfuhr ich, daß mein Schwager Gerhard Böhm im politischen Untergrund tätig war. Auch ich war in diese Aktivitäten einbezogen: Es handelte sich um gelegentliche Botengänge und ähnliche Aufgaben. So bescheiden sie auch waren – das mir erwiesene Vertrauen schmeichelte mir, ich unterschätzte die Gefahr keineswegs und fühlte mich sehr wichtig. Nein, zum Kommunisten hat mich mein Schwager Böhm nicht gemacht, aber er hat mich für den Kommunismus vorbereitet.
    Auch jene beiden literarischen Abende, die ich nie vergessen werde, haben mit ihm zu tun. Es war Anfang 1936. Wir, etwa zehn meist junge Leute, versammelten uns in einer geräumigen und gut ausgestatteten Wohnung in Grunewald. Sie gehörte einem etwas älteren Freund meines Schwagers, der das Treffen organisiert hatte und auf dessen Wunsch auch ich eingeladen worden war.
    Was sich abspielen sollte, wußte ich nicht. So war ich denn höchst verwundert, als ich auf dem Tisch zwei Exemplare der SS-Zeitung »Das schwarze Korps« sah. In der Tat las mein

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