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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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»Buddenbrooks« bewundert und verehrt.
    Doch die prägende Wirkung übte auf mich in jenen frühen Jahren ein anderes Buch aus, eine unvollkommene und vielleicht sogar fragwürdige Erzählung. In Tonio Kröger, der von den »Wonnen der Gewöhnlichkeit« träumt und der fürchtet, »das Leben in seiner verführerischen Banalität« werde ihm entgehen, der an seiner Unzugehörigkeit leidet und wie ein Fremdling im eigenen Haus lebt – in ihm habe ich mich wiedererkannt. Seine Klage, er sei oft sterbensmüde, »das Menschliche darzustellen, ohne am Menschlichen teilzuhaben«, hat mich tief getroffen. Die Furcht, nur in der Literatur zu leben und vom Menschlichen ausgeschlossen zu sein, die Sehnsucht also nach jener schönen, grünen Weide, die rings umher liegt und doch unerreichbar bleibt, hat mich nie ganz verlassen. Diese Furcht und diese Sehnsucht gehören zu den Leitmotiven meines Lebens.
    Ich bin der Erzählung »Tonio Kröger« treu geblieben: Als mir 1987 der Thomas-Mann-Preis verliehen wurde, war es für mich selbstverständlich, worüber ich in der Dankrede sprechen würde – über dieses poetische Kompendium aller, die mit ihrer Unzugehörigkeit nicht zu Rande kommen, über diese Bibel jener, deren einzige Heimat die Literatur ist.
    Die Frage, was Thomas Mann, der nun in der Schweiz wohnte, angesichts dessen, was sich in Deutschland abspielte, tun werde, gewann für mich, ich übertreibe nicht, lebenswichtige Bedeutung. Als ich an jenem Abend im Februar 1937 die ersten Worte seines Briefes hörte, war ich sehr unruhig, ich glaube, ich zitterte. Ich hatte ja keine Ahnung, worauf ich mich gefaßt machen sollte, wie er sich also entschieden hatte, wie weit er gegangen war. Doch schon der dritte Satz hat die Unsicherheit behoben. Denn hier war von den »verworfenen Mächten« die Rede, »die Deutschland moralisch, kulturell und wirtschaftlich verwüsten«. Da konnte kein Zweifel mehr sein: Thomas Mann hatte sich in diesem Brief zum ersten Mal und in aller Deutlichkeit gegen das »Dritte Reich« gestellt.
    An dem dunklen Abend, als ich in Grunewald die langsam und nachdenklich gelesenen Worte Thomas Manns hörte und als mir das monotone, fortwährende Schlagen des Regens gegen die Fensterscheiben bedrohlich vorkam, als die Stille den Atem der Anwesenden hören ließ – was empfand ich damals? Erleichterung? Ja, gewiß, aber mehr noch: Dankbarkeit. Später habe ich mich in den unterschiedlichsten Gesprächen, die so häufig um Deutschland kreisten, in Berlin, in Warschau, auch im Getto, immer wieder auf den zentralen Gedanken dieses Briefes berufen: »Sie« – und gemeint waren damit die Nationalsozialisten –»haben die unglaubwürdige Kühnheit, sich mit Deutschland zu verwechseln! Wo doch vielleicht der Augenblick nicht fern ist, da dem deutschen Volke das Letzte daran gelegen sein wird, nicht mit ihnen verwechselt zu werden.«
    1937 habe ich noch nicht wissen können, daß Thomas Mann während des Zweiten Weltkrieges in der internationalen Öffentlichkeit eine Rolle spielen würde, die noch nie einem deutschen Schriftsteller zugefallen war: Er wurde zur repräsentativen, zur weithin sichtbaren Gegenfigur. Sollte ich mit zwei Namen andeuten, was ich als Deutschtum in unserem Jahrhundert verstehe, dann antwortete ich, ohne zu zögern: Deutschland – das sind in meinen Augen
    Adolf Hitler und Thomas Mann. Nach wie vor symbolisieren diese beiden Namen die beiden Seiten, die beiden Möglichkeiten des Deutschtums. Und es hätte verheerende Folgen, wollte Deutschland auch nur eine dieser beiden Möglichkeiten vergessen oder verdrängen.
    Nach dem letzten Satz des Briefes wagte niemand etwas zu sagen. Der den Text gelesen hatte, schlug vor, daß wir eine Pause machen und uns dann über das Prosastück unterhalten wollen. Ich benutzte die Pause, um zu danken und mich zu verabschieden. Ich möchte, sagte ich, nicht zu spät nach Hause kommen, da ich am nächsten Tag eine wichtige Klassenarbeit zu schreiben hätte. Das war gelogen. In Wirklichkeit wollte ich allein sein – allein mit meinem Glück.

 
Die schönste Zuflucht: das Theater
     
    Auf den Programmheften der Berliner Staatstheater prangte in diesen Jahren das Hakenkreuz – und doch hatten wir es damals mit einer wahren Blütezeit der deutschen Bühnenkunst zu tun. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei es gleich gesagt: Jene, die 1933 die Macht an sich gerissen hatten, erscheinen deshalb nicht in milderem Licht; und die Kluft, die sich zwischen dem

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