Mein Leben
als auf das Repertoire der Vergangenheit zurückzugreifen: Man spielte die Dramen der großen Literatur von Aischylos über Shakespeare bis Bernard Shaw und natürlich die deutschen Klassiker von Lessing bis Gerhart Hauptmann.
Ich hatte also Gelegenheit, die Weltdramatik nicht nur lesend kennenzulernen. Alles interessierte mich brennend, ich saugte es förmlich auf. Die Theatervorstellungen prägten meine Existenz und markierten meinen Alltag. Aber manch ein berühmtes Werk enttäuschte mich oder blieb mir fremd. Ich erkannte wohl die Bedeutung Molières, doch ein wenig langweilte er mich, lieben konnte ich ihn nicht. Ich fand Goldoni gewiß bemerkenswert, aber ziemlich albern. Mein Verhältnis zu Beaumarchais und Gogol war respektvoll, natürlich, doch etwas distanziert. Ibsen, der nur selten aufgeführt wurde, was verwunderlich ist, schien mir veraltet, Bernard Shaws Komödien, die man häufig sehen konnte, belustigten mich, ohne auf mich tiefer einzuwirken.
Wie schwierig es damals war, spielbare Stücke zu finden, mag man daran erkennen, daß die Intendanten sich nicht scheuten, vom Archiv der Theatergeschichte zu profitieren und neben allerlei Boulevardstücken auch einst weltberühmte, doch inzwischen längst verstaubte Reißer wie »Ein Glas Wasser« von Scribe oder »Die Kameliendame« von Alexandre Dumas (fils) hervorzuholen und mit virtuosen Aufführungen attraktiv zu machen. Von Oscar Wilde konnte man damals auf den Berliner Bühnen innerhalb kurzer Zeit alle vier Lustspiele sehen, drei wurden in den Jahren 1935 und 1936 auch noch verfilmt.
Das alles amüsierte mich und regte mich auch an, und ich bewunderte die großen Schauspieler, die selbst läppische Stücke zum Leben zu erwecken vermochten. Aber es traf mich nicht. Lohnt es sich, heute darüber zu schreiben? Vielleicht nur, um erkennbar zu machen, was mich wirklich traf, berührte und aufregte. Es waren zunächst und vor allem und immer wieder die Komödien und, in noch höherem Maße, die Tragödien Shakespeares. Und es waren Dramatiker wie Lessing, Goethe und Schiller, Kleist, Büchner und Grabbe, Raimund und Nestroy, Grillparzer und Hebbel sowie schließlich Gerhart Hauptmann. Suchte ich etwa mitten im »Dritten Reich« das andere Deutschland? Nein, auf diese Idee kam ich gar nicht. Aber von einer feindlichen, bestenfalls frostigen Welt umgeben, sehnte ich mich, bewußt und unbewußt, nach einer Gegenwelt. Und ich fand eine deutsche Gegenwelt. Später hat man manche Inszenierungen an den führenden Berliner Bühnen als Widerstandsleistungen gegen die Nazis gerühmt. Hat es denn derartiges wirklich gegeben? 1937 wurde am Deutschen Theater Schillers »Don Carlos« aufgeführt; Albin Skoda spielte den Carlos und Ewald Baiser den Marquis Posa. Über diese Aufführung hat man damals viel geredet und gemunkelt. Doch was Aufsehen erregte, war nicht etwa ihre Qualität, die übrigens niemand bezweifelte, sondern ein etwas unheimlicher Umstand: Allabendlich gab es nach Posas Worten »Geben Sie Gedankenfreiheit« so lauten Beifall, daß es vorerst unmöglich war, die Vorstellung fortzusetzen. Der Darsteller des Königs mußte ziemlich lange warten, bis sich das Publikum beruhigte und er endlich die Worte »Sonderbarer Schwärmer« sprechen konnte.
War das mehr als Beifall für Schillers Verse und Baisers Rezitationskunst? War das wirklich eine Demonstration gegen den Staat der Nazis? Ja, sehr wahrscheinlich. Nur wäre es lächerlich anzunehmen, das sei den Machthabern entgangen. Goebbels hat sich über diese Inszenierung in seinem Tagebuch anerkennend geäußert, und der Reichsdramaturg Rainer Schlösser soll gesagt haben, nach den vielzitierten Worten Posas habe das Publikum schon zu Schillers Lebzeiten kräftig applaudiert. Jedenfalls konnte der »Don Carlos« zweiunddreißigmal gespielt werden.
Als Höhepunkt der Auseinandersetzung des Staatstheaters mit der nationalsozialistischen Herrschaft gilt Jürgen Fehlings Inszenierung von »Richard III.« mit Werner Krauss. Ich war bei der Premiere am 2. März 1937 dabei. Ich werde diese Vorstellung nicht vergessen – die schauspielerische Leistung von Werner Krauss ebensowenig wie die radikale Regiekonzeption Fehlings. Er hat die Geschichte des Zynikers und des herrschsüchtigen Verbrechers in der Tat so inszeniert, daß sie auf Hitler und auf die Verhältnisse in der deutschen Gegenwart bezogen werden konnte – zumal entsprechende Textstellen besonders hervorgehoben wurden, etwa: »Schlimm ist die Welt,
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