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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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von ihnen beherrschten und terrorisierten Land und der zivilisierten Welt aufgetan hatte, wurde durch die Leistungen der Künstler, die die nationalsozialistische Kulturpolitik beharrlich ignorierten und die sich ihr auf vorsichtige Weise widersetzten, nicht um einen Deut kleiner. Denn die Aufführungen in den Berliner Opernhäusern, im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt und in einigen anderen Theatern sowie die Konzerte, zumal die der Berliner Philharmoniker mit Wilhelm Furtwängler an der Spitze, vermochten die Tyrannei nicht zu mindern. Aber sie haben das Leben vieler Menschen erträglicher, ja sogar schöner gemacht – und eben auch mein Leben.
    Was habe ich vom Theater, das in diesen Berliner Jahren einen beträchtlichen Teil meines Lebens ausmachte, denn erwartet? Bertolt Brecht, der nicht müde wurde zu wiederholen, er wolle mit Hilfe des Theaters die Menschen aufklären und erziehen, wußte schon, warum er andererseits mit provozierendem Nachdruck darauf hinwies, was letztlich das wichtigste Geschäft des Theaters sei – nämlich »die Leute zu unterhalten«. Habe auch ich mir vom Theater vor allem Unterhaltung und Ablenkung in düsterer Zeit erhofft? Und nicht mehr? Vielleicht doch. Sollte ich etwa Schutz gesucht haben? Dies aber würde bedeuten, daß meine kaum zu überschätzende Begeisterung für das Theater sehr wohl mit dem neuen Regime zu tun hatte. Nicht obwohl, sondern weil Barbaren in Deutschland herrschten, benötigte ich dringend ein Asyl.
    Gelegentlich wurde vermutet, ich sei zur Literatur durch den Bühneneingang gekommen. Das ist nicht ganz richtig. Wahr ist vielmehr, daß es sich hier um einen wechselseitigen Prozeß handelte: Die Literatur hatte mich zum Theater getrieben und das Theater zur Literatur. Beide zusammen boten mir, was ich dringend brauchte, worauf ich in wachsendem Maße angewiesen war: Beistand und Zuflucht. So bewährte sich mitten im »Dritten Reich« die deutsche Literatur zusammen mit dem Berliner Theater als der Elfenbeinturm des halbwüchsigen Juden.
    Im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt begann der Vorverkauf der Eintrittskarten stets am Sonntag um zehn Uhr morgens. Doch mußte man sich schon um acht, spätestens um neun Uhr anstellen, um eine der wenigen billigen Karten zu bekommen – zumal wenn man eine Premiere sehen wollte. Für eine Gründgens-Premiere hatte man sich noch früher in der Schlange einzufinden. Am Gendarmenmarkt kostete ein Platz auf dem dritten Rang zwei Mark, auf der Empore eine Mark. Dort oben hörte man – denn die Akustik war in diesem Haus ungewöhnlich – alles besser als im Parkett, auch den Souffleur. In der Staatsoper mußte man für einen Sitzplatz auf dem vierten Rang zwei Mark fünfzig bezahlen und für den Stehplatz eine Mark. »Rigoletto« stehend? Das ist kein Problem. Aber die »Götterdämmerung«? Taschengeld bekam ich, soweit ich mich erinnern kann, überhaupt nicht, doch was ich bei meinem Onkel verdiente – als Babysitter und als Bote, der Dokumente im Patentamt ablieferte –, reichte für zwei bis drei Theater- oder Opernvorstellungen monatlich.
    Ins Kino ging ich seltener, mein Interesse für die Filmkunst hielt sich schon damals in Grenzen – wohl deshalb, weil mich das Wort in der Regel stärker beeindruckte als das Bild. Meinen ersten Film hatte ich noch in Polen gesehen (es war Charlie Chaplins »Zirkus«), meinen ersten Tonfilm 1930 in Berlin, im Ufa-Palast am Zoo. Es waren »Die Drei von der Tankstelle« mit dem in jener Zeit ungewöhnlich beliebten Paar Lilian Harvey und Willy Fritsch und mit einem jungen Komiker: Heinz Rühmann. Eines meiner aufregendsten Filmerlebnisse war Willi Forsts »Maskerade« mit Paula Wessely. Diesen Film, der den Ruf eines Meisterwerks hatte, wollte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. Doch der Grund meiner Aufregung hatte nichts mit seiner Qualität zu tun. Vielmehr war »Maskerade« laut polizeilicher Vorschrift für Jugendliche unter achtzehn Jahren nicht zugelassen. Ich aber zählte 1934 alles in allem vierzehn Jahre.
    An den Kassen der kleinen Berliner Kinos saßen in der Regel deren Inhaber. Sie dachten nicht daran, sich um das Alter der Besucher zu kümmern: Ihnen war nur daran gelegen, möglichst viele Eintrittskarten zu verkaufen. Auf jeden Fall zog ich mir meinen einzigen Anzug mit langen Hosen an und band mir einen Schlips um. Aber von Zeit zu Zeit gab es in den Kinos, so wurde in der Schule gemunkelt, überraschende Polizeikontrollen – und die Halbwüchsigen, die es

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