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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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»Walküre« gehört und auch den »Lohengrin«. Das sei ganz und gar indiskutable Musik.
    Das nahm ich hin und stellte leise und, ich gebe es zu, scheinheilig die schlichte Frage: »Und wie ist es mit dem ›Tristan‹?« Stockhausen schwieg einen Augenblick und ließ sich dann zögernd vernehmen: »Die Ouvertüre (er sagte tatsächlich »Ouvertüre« und nicht »Vorspiel«), die Ouvertüre ist gut, der Rest ist überflüssig.« Das ist das originellste Urteil, das ich über Richard Wagners »Tristan und Isolde« je zu hören bekommen habe.

 
Ein Leiden, das uns beglückt
     
    Über Sexualität wurde man in meiner Jugend nicht aufgeklärt, weder zu Hause noch in der Schule. Als ich zehn Jahre alt war, glaubte ich, Kinder kämen durch den sich zu diesem Zweck verbreiternden Nabel der Mutter zur Welt. Als ich elf, zwölf Jahre alt war, versuchte ich in Pausengesprächen mit Klassenkameraden gelegentlich etwas über Sexuelles zu erfahren. Manche von ihnen könnten mich, hoffte ich, über dies und jenes ein wenig informieren. Nun ja, diese Jungen kannten einige handfeste Vokabeln, sonst jedoch wußten sie noch weniger als ich. Und was mich wunderte: Viele interessierten sich für diese Materie nicht sonderlich – jedenfalls gaben sie es vor. Verklemmt waren wir alle. In den proletarischen Stadtteilen von Berlin war es wohl anders.
    Eines Tages bekam ich eine Broschüre geliehen. Sie war in schlechtem Deutsch geschrieben und auf schlechtem Papier gedruckt, alles in allem sechzehn Seiten. Aber enttäuschend waren für mich nicht Stil und Papierqualität dieser Aufklärungsschrift, vielmehr der Hinweis auf dem Umschlag: »Für junge Männer«. Also nichts für und über Mädchen? Nichts über jenes Phänomen, das mir und anderen Gleichaltrigen rätselhaft und geheimnisvoll schien, das irgendwie mit dem Mond zusammenhängen sollte und die Mädchen von uns allen trennte? Kurz und gut: nichts über die monatliche Blutung?
    Statt dessen standen im Mittelpunkt dieser Broschüre zwei Thesen. Die jungen Leser wurden beschworen, jeglichen Geschlechtsverkehr vor der Eheschließung zu unterlassen. Andernfalls drohten ihnen unheilbare Krankheiten, mit denen sie ihre künftigen Ehefrauen anstecken könnten und vielleicht auch ihre künftigen Kinder. Überdies wurden die jungen Leser vor der Onanie nachdrücklich gewarnt: Sie führe zu scheußlichen Hautkrankheiten, wenn nicht zur Erblindung und zur Taubheit.
    Ergiebiger als die Pausengespräche und diese Aufklärungsschrift war ein Fund, den ich auf der Straße gemacht hatte: In einem Papierkorb fiel mir eine Kondom-Schachtel auf. Sie schien leer, war es aber nicht: Sie enthielt ein dünnes, gefaltetes Blatt. Es war, wie nicht anders zu erwarten, die Gebrauchsanweisung, klein gedruckt und sehr ausführlich. Ich nahm sie mit, um sie aufmerksam zu lesen – nicht weil ich belehrt werden wollte, wie man Kondome benutzt, sondern weil ich glaubte, hier konkrete Informationen über den Geschlechtsverkehr finden zu können. Doch gerade dies war nicht so einfach. Denn der Text war schwer und streckenweise überhaupt nicht zu verstehen. Es wimmelte in ihm von Fremdworten, die ich nicht kannte.
    Glücklicherweise gab es in unserer Wohnung den Großen Brockhaus. Ich machte mich ans Werk, ich schlug also die Fremdworte nach, die in dieser wissenschaftlichen oder eher pseudowissenschaftlichen Gebrauchsanweisung vorkamen: Vagina, Klitoris, Penis, Erektion, Koitus, Orgasmus, Ejakulation, Sperma. Die Lexikon-Lektüre wollte kein Ende nehmen, da sich in jedem dieser Artikel weitere Vokabeln fanden, über die ich unterrichtet sein wollte: Masturbation, Uterus, Menstruation, Syphilis und viele andere.
    So wurde der Große Brockhaus zu meinem Lehrbuch in Sachen Sexualität – einem Lehrbuch, dessen Sachlichkeit mich freute und dessen Trockenheit mich enttäuschte. Aber es dauerte nicht lange, und ich konnte mich davon überzeugen, daß jene Auskünfte und Beschreibungen, die ich suchte und dringend brauchte, auch in Druckschriften ganz anderer Art zu haben waren – und daß sie dort meist weniger sachlich, aber dafür auch viel weniger trocken waren.
    Ich könnte, dachte ich mir, mit dieser Gebrauchsanweisung meiner Cousine imponieren, einem hübschen und aufgeweckten Mädchen, bloß zwei Jahre älter als ich und keineswegs prüde. Sie war für das eng bedruckte Papier, das ich ihr zeigte und gleich großzügig überließ, sehr dankbar. Erfreulicherweise hatte sie das Bedürfnis, sich auf

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