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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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angemessene Weise zu revanchieren. Gewiß wollte sie mir bei dieser Gelegenheit beweisen, daß auch sie nicht hinter dem Mond lebe und daß sie, wohl vierzehn Jahre alt, schon beinahe erwachsen sei. Sie brachte mir also ein ziemlich dickes Buch, das ich mitnehmen durfte. Aber sie empfahl mir die Lektüre nur der von ihr angestrichenen Stellen.
    Wieder zu Hause, schloß ich mich mit dieser Leihgabe, da ich etwas Unanständiges erwartete, im Badezimmer ein. Das war, wie sich bald herausstellte, gar nicht nötig. Es handelte sich nämlich um einen ernsten Roman, in dem freilich viele Passagen Sexuelles betrafen. Ich las zunächst nur diese am Rande vermerkten Stellen. Sie gefielen mir, ich fand sie aufschlußreich und zugleich reizvoll und sogar poetisch. Beides regte mich an – was gesagt war und wie es gesagt wurde.
    Nachdem ich alles, was meiner Cousine aufgefallen war, mit roten Backen zur Kenntnis genommen hatte, entschloß ich mich, ihren Ratschlag zu ignorieren und das ganze Buch zu lesen. Ich habe es nicht bedauert. Vielleicht ist mir damals aufgegangen, worauf es in der Literatur ankommt – darauf nämlich, daß sich der Sinn und der Ausdruck, der Inhalt und die Form nicht voneinander trennen lassen. Nur sollte ich noch sagen, welches Buch mir zu den frühen Einsichten in das Sexuelle und den elementaren in das Literarische verholfen hat. Es war der Roman »Narziß und Goldmund« von Hermann Hesse.
    Als ich dieses Buch in den fünfziger Jahren noch einmal las, hat sich der Eindruck, den es einst auf mich gemacht hatte, nicht als nachhaltig erwiesen: Die etwas penetrante Mischung aus deutschromantischer Tradition und weltfremder Innerlichkeit, aus sanfter Sentimentalität und wütender Zivilisationsverachtung schien mir nicht mehr erträglich. Ahnlich erging es mir mit einem anderen, alles in allem doch wichtigeren Roman von Hesse, dem »Steppenwolf«. Ich habe ihn, nicht ganz freiwillig, dreimal gelesen: In den dreißiger Jahren war ich entzückt, in den fünfziger Jahren enttäuscht, in den sechziger Jahren entsetzt.
    Immerhin hat mich ein Buch Hesses, dessen »Seelenspeise« meiner Generation nur allzugut mundete, auch später gerührt und beeindruckt: sein schon 1904 veröffentlichter Schülerroman »Unterm Rad«. Obwohl ich an der Schule nicht sonderlich gelitten habe und von Lehrern nie gequält wurde, gehörten düstere Schülerromane zu meiner Lieblingslektüre, zumal »Freund Hein« von Emil Strauß, Musils »Verwirrungen des Zöglings Törleß« und natürlich der letzte Teil der »Buddenbrooks«. Aber es war wohl nicht nur die literarische Qualität dieser Bücher, die mich damals begeisterte, sondern auch und vor allem das (mit dieser Qualität zusammenhängende) erstaunlich starke Identifikationsangebot, das gerade auf Halbwüchsige wirkte.
    Die Aufklärung, zu der mir die Erlebnisse nicht sosehr des Intellektuellen Narziß als vielmehr des Künstlers Goldmund verhalfen, suchte ich zu ergänzen und zu vertiefen und war dankbar, wenn mir etwas Passendes auffiel. Daß Faust das Gretchen schwängert, war mir schon sehr früh zu Ohren gekommen, doch die Szene, in der dies geschieht, konnte ich in Goethes Text leider nicht finden. Damals schöpfte ich wohl zum ersten Mal den Verdacht, daß in der Literatur das Allerwichtigste zwischen den Zeilen, zwischen den Szenen enthalten sei. In den »Räubern« verblüffte mich Spiegelbergs derbe Erzählung vom Überfall auf ein Nonnenkloster. Wie wird, fragte ich mich, unser Deutschlehrer mit dieser Szene fertig werden? Er machte es sich einfach, er übersprang sie.
    Stark entzündete sich meine jugendliche Phantasie an den Romanen Jakob Wassermanns. Er war ein Moralist mit der Schwäche für billigen Pomp, ein passionierter Psychologe mit dem Drang zur handfesten Kolportage. Das Dämonische liebte er und das Dekorative, das Problematische und das Pikante. Er fand unzählige Leser, doch nur wenige ernste Kritiker. Aber ich gebe zu, daß seine meist redselig-schwülstigen Romane mir damals durchaus gefielen, vielleicht auch der Sexualmotive wegen.
    In Wassermanns »Gänsemännchen« bewegte mich eine Situation so nachhaltig, daß ich mich noch nach vielen Jahren an sie erinnern konnte. Ein Mann will seine Freundin nackt sehen. Sie löscht das Licht. Sie zieht sich aus, er hört das Rascheln ihrer Kleider. Sie öffnet das Ofentürchen, die Glut läßt ihren Unterleib, insbesondere die Schamhaare, dunkelrot aufleuchten. Man wird zugeben: sehr aufregend, zumal, wenn

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