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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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als Angehöriger der Fremdenlegion in Nordafrika überlebt. Das klingt recht abenteuerlich, wenn nicht dramatisch. Aber er hat es in der Fremdenlegion nicht so schlecht gehabt: Er hat dort die Bibliothek verwaltet.
    Nach der Bestattung des Großvaters überlegten die Brüder meiner Mutter, wer ihren Vater beerben solle. Aber er, der ganz arme Rabbiner, hatte nichts, gar nichts hinterlassen – nur eine goldene Uhr, ein Geschenk zu seiner Konfirmation, der Bar-Mizwa, im Jahre 1861. Die Brüder meinten, er habe keines seiner Enkelkinder mehr geliebt als mich, ich solle die Uhr erhalten. Ich nahm sie nicht ohne Stolz entgegen und besaß sie noch im Warschauer Getto. Ebendort mußte ich diese schöne, altmodische Uhr, so leid es mir tat, verkaufen. Aber ich brauchte dringend Geld – um eine Abtreibung bezahlen zu können.
    Der Tod meines Großvaters veränderte unser Leben. Die monatlichen Zuwendungen der Brüder meiner Mutter blieben nun aus, es ging uns materiell immer schlechter. So wurde sein geräumiges Zimmer gründlich renoviert und schnell vermietet. Die Frau, die nun einzog, hat mich gleich, sagen wir, beunruhigt. Die fast dreißigjährige, schlanke und hochgewachsene Blondine, die, wenn ich mich recht entsinne, aus Kiel stammte – jedenfalls verriet ihr Aussehen die norddeutsche Herkunft. Sie war, wie man damals sagte, eine Arierin. Sie kleidete sich meist etwas extravagant: Gern trug sie lange, ziemlich enge schwarze Hosen aus Samt oder Kunstseide und ein dunkelrotes oder violettes, ungefähr bis zu den Knien reichendes Jackett, das an einen Frack erinnerte. Diese Garderobe ging wahrscheinlich auf das Vorbild jener Schauspielerin zurück, die eine ganze Generation von Männern und Frauen fasziniert hatte, deren Name aber jetzt, in den Jahren des »Dritten Reichs«, nicht mehr öffentlich genannt werden durfte – auf das Vorbild Marlene Dietrichs. Von Beruf war die hellblonde Untermieterin Fotografin, sie arbeitete in der Werbeabteilung einer großen Firma. Ihr Vorname war durchaus nicht extravagant – sie hieß, wie die berühmteste Geliebte der deutschen Literatur, ganz einfach Lotte.
    Liebe – was ist das? 1991 wurde ich von einer deutschen Illustrierten gebeten, diesen Begriff zu definieren. Allerdings durfte es nur ein Satz sein. Die Aufgabe reizte mich, doch das angebotene Honorar schien mir allzu karg. Ich sei – teilte ich der Redaktion mit – bereit, das Gewünschte zu schreiben, doch müßten es mindestens zwei Maschinenseiten sein. Ein einziger Satz über dieses Thema mache viel mehr Mühe, da sei das Fünffache des angebotenen Honorars angemessen. Also: je kürzer der Text, desto höher das Honorar. Man war einverstanden. Ich schrieb: »Liebe nennen wir jenes extreme Gefühl, das von der Zuneigung zur Leidenschaft führt und von der Leidenschaft zur Abhängigkeit; es versetzt das Individuum in einen rauschhaften Zustand, der zeitweise die Zurechnungsfähigkeit des Betroffenen, des Getroffenen einzuschränken vermag: Ein Glück ist es, das Leiden bereitet, und ein Leiden, das den Menschen beglückt.«
    Habe ich diese Lotte geliebt? Sicher bin ich nicht. Aber zum ersten Mal in meinem Leben ging mein Interesse an einer Frau bald in eine wachsende Sympathie über, in eine intensive Zuneigung, die zwar noch keine Leidenschaft war und die auch nicht zur Abhängigkeit führte – und die mich dennoch in einem bis dahin unbekannten Maße beschäftigte. In einen Rausch wurde ich nicht versetzt. Doch ahnte ich, was Liebe ist, genauer, was sie sein kann.
    Mit ihr, der anmutigen und etwas scheuen Fotografin, führte ich lange Gespräche – meist in ihrem Zimmer oder auf unserem Balkon. Ich wundere mich noch heute, daß sie für mich so viel Zeit hatte. Warum wohl? Vielleicht deshalb, weil sie in eine Lebenskrise geraten war und jemanden benötigte, der ihr zuhörte. Wenn es Tolstoj drängte, sich auszusprechen, mietete er eine Kutsche und ließ sich eine Stunde lang durch die Stadt fahren. Was er unbedingt erzählen wollte, erzählte er nun – dem Kutscher. So war ich möglicherweise der Kutscher jener Lotte: Die Aufnahmefähigkeit und Neugierde des Sechzehnjährigen gefielen ihr, seine vorsichtigen Fragen waren ihr willkommen. Daß er sie offensichtlich bewunderte, störte sie keineswegs.
    Mir aber schmeichelte ihr Vertrauen. Alles, was sie mir über ihre Vergangenheit berichtete oder, häufiger noch, andeutete, empfand ich als ein freigebiges Geschenk. Daß das Erzählen über sich selber eine

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