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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Bücherleser und Theaterenthusiasten, der in eine Außenseiterposition gerät. Hamlets Worte »Die Zeit ist aus den Fugen« und »Dänemark ist ein Gefängnis« hatte Gründgens – so schien es mir jedenfalls – besonders hervorgehoben. In diesem Königreich Dänemark, einem Polizeistaat, werden alle von allen ausspioniert: Der Minister Polonius traut nicht seinem Sohn Laertes, der sich nach Paris begeben hat, er schickt ihm einen Agenten nach, der ihn bespitzeln soll. Die Königin soll mit ihrem Sohn Hamlet sprechen, aber auch ihr kann der Staat nicht trauen, der Minister belauscht persönlich die Unterredung.
    Besonders verdächtig ist Hamlet: Er liest und denkt zuviel und überdies ist er gerade aus dem Ausland zurückgekehrt. Man holt rasch zwei Hofleute, Rosenkranz und Güldenstern, die mit ihm aufgewachsen sind und daher für geeignet gehalten werden, ihn zu »erspähn«. Er ist ein Mann, dessen Existenz, anders als die seiner Zeitgenossen, von seinem Geist bestimmt wird, von seinem Gewissen. Er beklagt sich, Gewissen mache Feige aus uns allen, und erklärt, »Nur reden will ich Dolche, keine brauchen« – gleichwohl erdolcht er Polonius. Er ist der Welt, in der er lebt, überlegen und ihr zugleich nicht gewachsen.
    Nachdem ich Gründgens gesehen hatte, habe ich jede Szene des »Hamlet« anders gelesen als zuvor – vor allem als Tragödie des Intellektuellen inmitten einer grausamen Gesellschaft und eines verbrecherischen Staates. Haben die Theaterbesucher dieses Stück und diese Aufführung ähnlich wie ich verstanden? Wohl nur eine kleine Minderheit. Aber konnte es den Nazis, zumal ihren Kulturpolitikern und Journalisten, entgehen, daß dieser »Hamlet« auch als politisches Manifest, als Protest gegen die Tyrannei in Deutschland verstanden werden konnte? Nein, natürlich nicht.
    Im »Völkischen Beobachter« erschien ein ganzseitiger Artikel, in dem die Hamlet-Interpretation von Gründgens mit damals als Schimpfworte verwendeten Vokabeln (»dekadent«, »neurasthenisch« und »intellektuell«) bedacht und als antinationalsozialistisch geächtet wurde. Gründgens floh sofort in die Schweiz, da er Verfolgungen befürchtete – auch im Zusammenhang mit seinen homosexuellen Neigungen und Praktiken. Doch Göring forderte ihn zur Rückkehr auf und garantierte ihm seine persönliche Sicherheit. Bald war Gründgens wieder in Berlin.
    Übrigens verbindet mich mit dieser Hamlet-Aufführung von 1936 auch eine ganz andere Erinnerung. Sie hat mit der berühmten (von Käthe Gold zart und dezent gespielten) Wahnsinns-Szene der Ophelia zu tun. Nicht nur sie, die Verwirrte, hatte mich ergriffen, sondern auch die Situation eines hilflosen Zeugen ihres Verhaltens – ihres Bruders Laertes, des jungen Mannes, den der seelische und geistige Zusammenbruch seiner Schwester vollkommen ratlos macht. Als er verzweifelt aufschrie: »Seht Ihr das? O Gott!«, da wurde ich plötzlich von Angst überkommen, auch mir könnte es widerfahren, hilflos mit ansehen zu müssen, wie ein mir ganz nahe stehender Mensch, vom Wahnsinn befallen, schreit und stammelt. Im Zuschauerraum des Hauses am Gendarmenmarkt von Furcht gelähmt, dachte ich mir: Möge mir dies erspart bleiben. Aber es ist mir nicht erspart geblieben.
    So hat mich von allen Schauspielern, die ich in meiner Jugend sehen konnte, gerade jener am stärksten fasziniert, der Görings Schützling war und der 1936 zum Preußischen Staatsrat ernannt wurde. Verwundern mag auch, daß mich in meiner Jugend am nachhaltigsten gerade jener Komponist beeindruckt hat, den man zu den schrecklichsten, den aggressivsten Antisemiten in der Geschichte der Kultur, nicht nur der deutschen, zählen muß.
    Ich war ein Kind noch, erst dreizehn Jahre alt, als meine Schwester mich, nach gehöriger Vorbereitung am Klavier, in eine Aufführung der »Meistersinger von Nürnberg« mitnahm. Der nationalsozialistischen Propaganda zum Trotz hat mich diese Oper sofort entzückt – vermutlich auch deshalb, weil es eine Oper über Musik und Literatur ist, über den Künstler und das Publikum, über die Kritik. Bis heute bereitet mir keine Oper mehr Freude, mehr Glück als die »Meistersinger«. Und keine trifft mich tiefer und erregt mich stärker als »Tristan und Isolde«.
    Ein Fernseh-Reporter hat mich einmal – es war spät nachts in einem Hotelpark, in dem gerade eine Gardenparty zu Ende gegangen war – mit einer einfachen Frage überrascht. Er wollte wissen, wie ich mit einem so wütenden Judenhasser wie

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