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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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man dreizehn oder vierzehn Jahre alt ist. Jetzt habe ich diese Passage im »Gänsemännchen« gesucht. Es stellte sich heraus, daß ich sie in meinem Gedächtnis über sechzig Jahre lang richtig aufbewahrt habe, nur die Schamhaare gibt es bei Wassermann nicht, sie gehen auf das Konto meiner pubertären Einbildungskraft.
    Nicht weniger erregte mich eine Stelle in Flauberts »Madame Bovary«. Der Gutsbesitzer Rudolphe Boulanger, der von einem Besuch bei den Bovarys zurückkehrt, meditiert über das dort Erlebte: »Er sah Emma immer wieder vor sich, im selben Saal und ebenso gekleidet, wie er sie vorhin gesehen hatte, und in Gedanken entkleidete er sie.« Diese wenigen schlichten Worte – »und in Gedanken entkleidete er sie« – schreckten mich auf und prägten sich für immer ein.
    Heute weiß ich, warum sie so wirken konnten: Überraschend hatte ich erfahren, daß die gelegentlichen Vorstellungen meiner Phantasie keineswegs ungewöhnlich waren, daß es also schon vor mir Männer gab, die auf die Idee gekommen waren, eine Frau in Gedanken zu entkleiden. Ich begriff, daß sich in der Literatur etwas finden und erkennen ließe, dessen Bedeutung nicht zu überschätzen sei – man könne sich selber finden, seine eigenen Gefühle und Gedanken, Hoffnungen und Hemmungen.
    Etwa zur gleichen Zeit las ich in einem Roman von Zola, wie ein Mädchen zum ersten Mal die Menstruation erlebt. Das interessierte und irritierte mich sehr. Aber ich bedauerte, daß ähnliches über die Erlebnisse von Knaben in der Literatur nicht zu haben war, daß man also nirgends lesen konnte, wie ein Knabe die erste Erektion erlebt oder den ersten Samenerguß. Alfred Döblin, der seine Jugend freilich noch im neunzehnten Jahrhundert erduldet und erlitten hat, berichtet, er habe eine nackte Frau zum ersten Mal als Student der Medizin im Alter von 23 Jahren gesehen – es war eine weibliche Leiche im Anatomiesaal. Nein, so schlecht erging es mir nicht, doch auch mir wurde der Anblick einer nackten Frau spät zuteil – erst kurz vor dem Abitur.
    1936 starb – im Alter von 88 Jahren – mein Großvater, der Rabbiner. Seit mindestens fünf Jahren war er blind. Gleichwohl wünschte er, daß die Folianten mit den hebräischen Schriften seiner Väter vor ihm auf dem Tisch lagen, damit er sie immer wieder berühren konnte. Da er also keine Zeitungen zu lesen imstande war und auch seit einiger Zeit nicht mehr die Wohnung verließ, fiel es uns nicht schwer, ihm die Existenz des »Dritten Reiches« zu ersparen. Wer ihn besuchte, wurde ermahnt, dieses Thema strikt zu meiden.
    Als er auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee bestattet wurde – ich war zum ersten) Mal bei einer solchen Zeremonie –, verwunderte mich, daß er nicht, wie ich erwartet hatte, in einem Sarg beerdigt wurde, sondern in einer gewöhnlichen Kiste. Man erklärte mir den Grund: Vor Gott seien alle Menschen gleich, daher sei es unzulässig, die einen in schönen und verzierten, gar prächtigen Särgen ins Grab zu versenken, andere aber, jene aus bedürftigen Familien, in einfachen oder womöglich schäbigen. Deshalb sei es bei den Juden, jedenfalls bei den gläubigen, seit Jahrtausenden üblich, alle ihre Toten auf die gleiche Weise zu behandeln, sie stets in schlichten, schmucklosen Holzkisten aus ungehobelten Brettern zu begraben. Da die Literatur meinen Sinn für Symbole geschärft hatte, gefiel mir diese archaische Sitte, deren Pathos angesichts des Todes mir Respekt einflößte.
    Von den sechs Geschwistern meiner Mutter fehlte bei der Beerdigung nur ihr jüngster Bruder, damals 36 Jahre alt, ein gutaussehender, ein eleganter, ein, wie manche Familienmitglieder meinten, gar zu eleganter und wohl etwas protziger Mann. Er war Rechtsanwalt, seine Kanzlei befand sich Unter den Linden – was die Familie als unangemessen, als Zeichen seines Übermuts wertete. In zweierlei Hinsicht fiel er aus dem Rahmen. Er hatte eine Schwäche für Pferderennen, die Wetten ließen ihn gelegentlich in ernste finanzielle Nöte geraten. Überdies war er, anders als seine vier Brüder, mit einer Nichtjüdin liiert und später verheiratet, mit einer effektvollen Dame, die als Schauspielerin gelten wollte. Aber niemand hat sie je auf der Bühne oder auf der Leinwand gesehen.
    Dieser Onkel verließ Deutschland unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme – in größter Eile, angeblich irgendwelcher Schulden wegen. Mit einem mexikanischen Paß war er nach Frankreich gezogen. Den Krieg hat er

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