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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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unerhörte Gabe sein kann, eine solche, die der Hingabe gleichkommt oder sich nähert – ich erlebte es zum ersten Mal. Hinzu kommt, daß diese Lotte mich, wie niemand vor ihr und ganz ohne Einschränkung, ernst nahm, mich ohne jedes Aufheben wie einen Gleichberechtigen, wie einen Erwachsenen behandelte. Ich sah darin jene Anerkennung, die ich, wie vermutlich die meisten Halbwüchsigen, dringend brauchte und die es mir erleichterte, meine isolierte Existenz zu ertragen. Dafür war ich ihr dankbar. Ich begann zu begreifen, daß Liebe immer auch mit dem Bedürfnis nach Selbstbestätigung zu tun hat und daß es keine Liebe ohne Dankbarkeit gibt. Sie muß nicht aus Dankbarkeit entstehen, aber sie führt zu ihr – oder erlischt.
    Wir sprachen viel über Literatur, zumal über die französischen und russischen Romanciers des neunzehnten Jahrhunderts, die sie gut kannte. Natürlich sprachen wir auch über deutsche Schriftsteller, häufig über die jetzt verbotenen oder zumindest unwillkommenen – über Schnitzler und Werfel, über Thomas und Heinrich Mann. Erst nach einiger Zeit fiel mir auf, daß ihre Aufmerksamkeit, ob wir uns über Stendhal oder über Balzac, über Dostojewski oder Tschechow unterhielten, vor allem auf weibliche Figuren gerichtet war und auf erotische Motive. Das war wohl das Geheimnis unserer Beziehung: Wir hatten das Bedürfnis, über die Liebe zu sprechen – allerdings aus ganz verschiedenen Gründen.
    Ihr waren Enttäuschungen nicht erspart geblieben: Sie hatte sich vor einiger Zeit von einem Freund getrennt, sich, wie sie nachdrücklich betonte, von ihm trennen müssen. Wenig später war sie von einem Geliebten verlassen worden. Sie suchte Trost und Schutz – bei der Literatur. Und ich? Ich glaubte, über die Liebe Bescheid zu wissen, denn ich verfügte über eine verläßliche, eine ausgezeichnete Quelle. Dieser nie versiegenden Quelle konnte ich die schönsten und klügsten Worte über die Liebe entnehmen, aber eben nur Worte. Kurz: Die norddeutsche Blondine kam von der Liebe zur Literatur, ich wollte von der Literatur zur Liebe kommen. Wir trafen uns auf halbem Wege.
    Die Balkongespräche machten mir abermals bewußt, daß wir, die stille Fotografin und der unruhige Gymnasialschüler, Bücher lesend, vor allem uns selber verstehen wollten. Da wir beide auf der Suche nach uns selbst waren, entstand eine Gemeinsamkeit, die unserer dialogischen Beziehung eine unverkennbar erotische Note gab, wenn auch beileibe keine sexuelle. Ich habe die Frau, mit der ich mich über die Liebe in der Literatur unterhielt, nie berührt, ich kam gar nicht auf die Idee, sie – wie es Rodolphe Boulanger mit Emma Bovary getan hatte – in Gedanken zu entkleiden. Sie genügten mir: ihre Worte und Blicke, ihr Vertrauen und ihr Verständnis. Und je deutlicher sie, von Romanfiguren redend – immer sehr leise redend –, sich selber erkennbar machte, ja vielleicht entblößte, um so mehr fühlte ich mich belehrt und bereichert.
    Es dauerte nicht lange, und in unserer Konversation tauchte – unvermeidbar, so will es mir scheinen – ein Name auf, der die ohnehin spürbare Intimität sogleich vertiefte: der Name Fontane. Ich kannte damals nur »Effi Briest« und »Irrungen, Wirrungen«, sie hingegen fast alle seine Romane. Doch steuerte sie schnell auf einen einzigen zu und kehrte zu ihm mehrfach zurück: »Der Stechlin« war es, der es ihr angetan hatte. Ihr Interesse galt aber nicht etwa dem Junker Dubslav von Stechlin, nicht seinem Sohn Woldemar oder anderen männlichen Figuren, sondern vornehmlich Melusine, der Gräfin von Barby.
    Die ansehnliche, die gescheite und geistreiche Melusine hat schon eine Ehe hinter sich, freilich eine, die rasch wieder geschieden werden mußte. Sie war, wie es bei Fontane heißt, verheiratet und vielleicht auch nicht verheiratet gewesen. Das klingt geheimnisvoll, ist aber beinahe unmißverständlich: Auf ein sexuelles Versagen ihres Mannes wird hier angespielt, dies ist es, was sie tief gekränkt und verletzt haben muß. Damit hat wohl das ungewöhnliche Wesen Melusines zu tun. Wie sie das Aparte liebt, so verkörpert sie es selber. Nach Liebe sich sehnend und nach Glück, weckt sie, ob sie es will oder nicht, die Sehnsucht ebenso von Männern wie von Frauen. Sie ist eine stolze Frau, zurückhaltend und herausfordernd, kühl und warmherzig. Hinter Melusines betonter Selbstsicherheit verbirgt sich möglicherweise nichts anderes als Unsicherheit. Ob es vielleicht ebendiese Widersprüche

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