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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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sind, die zu ihrem Charme beitragen, die ihre Attraktivität steigern?
    Es war wohl gut, daß ich den »Stechlin« noch nicht kannte. So konnte ich die vielsagende Wiedergabe der Geschichte Melusines auf mich wirken lassen, ohne mich darum zu kümmern, ob sie dem Romantext wirklich entsprach oder ob die Erzählende, bewußt und unbewußt, das, was in ihrer Erinnerung geblieben war, mit neuen Zügen und Nuancen angereichert hatte. Ich konnte damals von meiner Dialogpartnerin lernen, wie es möglich ist, über sich selber ohne Exhibitionismus zu sprechen – und gewiß habe ich auch einiges über die Liebe gelernt.
    Unsere Gespräche wurden immer länger und, so will es mir heute vorkommen, immer schöner. Aber plötzlich war diese Balkonidylle in der Güntzelstrasse in Wilmersdorf beendet. Die aparte Untermieterin kündigte ihr Zimmer, sie hatte es sehr eilig, sie war in Panik. Es war ihr sichtlich unangenehm, uns zu erklären, warum sie weggehen müsse. Der Grund war: Sie hatte Angst – und das hing mit mir zusammen.
    Wenige Monate zuvor, im Herbst 1935, waren in Deutschland Gesetze verabschiedet worden, die die Juden endgültig ausgrenzten: Die Reichsregierung hatte die Emanzipation der Juden rückgängig gemacht. Unter Androhung hoher Zuchthausstrafen verboten die »Nürnberger Gesetze« die Eheschließung und auch die außerehelichen Beziehungen zwischen Juden und »Ariern«. Das alles war 1936 längst bekannt, Verurteilungen von Juden und Nichtjuden wegen »Rassenschande« waren an der Tagesordnung, die Zeitungen berichteten über die öffentliche und brutale Mißhandlung und Verhöhnung jener, denen man vorwarf, gegen die Gesetze verstoßen zu haben.
    Dennoch hatte die norddeutsche Fotografin, die »Arierin«, keine Bedenken gehabt, bei uns einzuziehen. Weil sie die Nationalsozialisten verachtete? Auch Leichtsinn mag dabei eine Rolle gespielt haben. Mein Vater und mein Bruder lebten damals schon in Warschau, aber ich war ja noch da, man konnte mich im Sinne der »Nürnberger Gesetze« belangen. Und ich konnte der Untermieterin zum Verhängnis werden. Man hatte sie jetzt nachdrücklich gewarnt, und sie zog daraus, sehr zu Recht, sofort die Konsequenzen. Sie verließ unsere Wohnung schon am nächsten Tag.
    Ich habe sie erst 1952 wiedergesehen, in Warschau. Sie lebte in Ostberlin, verheiratet mit einem Kommunisten, der im »Dritten Reich« einige Jahre im Gefängnis gewesen war. Nun saßen wir uns wieder gegenüber: Sie, die nicht mehr als Fotografin arbeitete, sondern irgendeinen Posten in der DDR-Verwaltung bekleidete, und ich, der ich nach einigen Umwegen zur Literatur zurückgekehrt war. In Gegenwart unserer (meist schweigenden) Ehepartner berichteten wir uns gegenseitig, was wir durchgemacht hatten. Dann war vom Kommunismus die Rede, von den Verhältnissen in der DDR und in Polen, von unseren Enttäuschungen, von unserem Mißvergnügen.
    Sie sprach so leise wie damals, und es schien mir, als sehnte sie sich wie eh und je nach Liebe und Glück, als würde sie diese Sehnsucht nach wie vor auf ihre Weise verkörpern – anmutig und reizvoll, jetzt freilich mit deutlich resignativen Zügen. Unvermittelt stellte sie mir eine Frage, die unsere beiden Ehepartner verwundern mußte: Und wie ist es mit Fontane? Ich antwortete sachlich: Fontane kenne man in Polen überhaupt nicht, noch nie sei ein Buch von ihm übersetzt worden. Vielleicht werde es sich bald ändern, denn es sei mir unlängst gelungen, eine polnische Ausgabe seiner Erzählung »Schach von Wuthenow« durchzusetzen. Das sei doch immerhin ein Anfang.
    Sie nickte lächelnd, etwas ironisch. Sie hatte verstanden, daß ich ihr ausgewichen war. So wiederholte sie ihre Frage deutlicher: Sie wollte wissen, wie ich jetzt zu Melusine stünde. Den Anwesenden mußte diese Frage weltfremd vorkommen oder zumindest belanglos – und vielleicht auch meine Antwort. Ob ich Melusine noch liebe – sagte ich –, ich wisse es wirklich nicht. Wohl aber wüßte ich, daß ich sie nie vergessen würde.

 
Die Tür führte ins Nebenzimmer
     
    An ihren Namen kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß auch nicht, wie es dazu gekommen war, daß sie mich zum Abendessen eingeladen hatte. Wahrscheinlich wollte sie jemandem einen Gefallen tun, vielleicht meiner Schwester oder meinem Schwager. Man hatte ihr wohl gesagt, da wohne in ihrer Nähe ein junger Mann, der am Theater geradezu leidenschaftlich interessiert sei und sich gern mit ihr über ihre Erfahrungen unterhalten möchte.

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