Mein Leben
Aber die feigen Juden flohen und verbargen sich in Höfen und Häusern. Das half ihnen nicht viel, sie wurden rasch ergriffen. Von wem? Von den deutschen Soldaten? Gewiß, auch von ihnen, doch häufiger noch von jenen, die ihnen, den neuen Herrn, sofort zu Diensten standen: von polnischen Rowdies und Nichtstuern aller Art, oft von Halbwüchsigen, die glücklich waren, daß sie eine fröhliche und auch abwechslungsreiche Betätigung gefunden hatten.
War es ihnen gelungen, einen fliehenden Juden zu fassen, dann schleppten sie ihn grölend zu den Deutschen, die gleich ans Werk gingen: Beherzt schnitten sie die langen Judenbärte ab, die sie bisweilen erst einmal mit einer brennenden Zeitung anzündeten. Das war besonders sehenswert. Kaum war der Bart auf den Damm gefallen, da johlten die vielen Schaulustigen, manche klatschten Beifall. Die beflissenen Hilfswilligen gingen nicht etwa leer aus: Mitunter fand sich für sie eine Banknote oder ein Ring.
Bald wurden auch die assimilierten, die europäisch gekleideten Juden ausgeraubt – und da es den Deutschen schwerfiel, sie von den Nichtjuden zu unterscheiden, konnten sich die polnischen Helfer wiederum nützlich machen: Die meisten kannten nur ein einziges deutsches Wort – »Jude« –, aber das reichte ja für ihre Aufgabe. Bestritt ein aufgegriffener Mann, Jude zu sein, dann lautete das Kommando: »Hosen runter!« – und es stellte sich bald heraus, ob er beschnitten war oder nicht. Übrigens wußten die Opfer solcher Razzien nicht, wann sie heimkehren würden – nach einigen Stunden, nach einigen Tagen oder nie.
Oft wurden die von der Straße mitgenommenen Juden – und auch Jüdinnen – in ein deutsches Dienstgebäude getrieben, das gereinigt werden mußte. Wenn Lappen zum Aufwischen des Fußbodens nicht zur Hand waren, dann wurde den Jüdinnen, zumal den besser aussehenden, befohlen, ihre Schlüpfer auszuziehen. Die ließen sich auch als Lappen verwenden. Für die Soldaten war das ein Heidenspaß – den übrigens ihre Kameraden bereits im März 1938 ausprobiert hatten: in der Ostmark, vor allem in Wien.
Den vielen Straßenrazzien folgten schon im Oktober 1939 Überfälle auf die Wohnungen von Juden. Sie fanden meist nach zwanzig Uhr statt, wenn die Häuser geschlossen waren. So hörten wir eines Abends, wie an das Tor unseres Hauses ungewöhnlich laut geklopft wurde. Da wußte man schon: Das sind die Deutschen. Der erschrockene Hausmeister öffnete sofort, doch bald fiel ihm ein Stein vom Herzen. Denn diese Soldaten begehrten nur deshalb Einlaß, weil sie einen jüdischen Zahnarzt brauchten. Damit war mein Bruder gemeint. Das Interesse für seine Person hatte allerdings keinen medizinischen Grund: Die jungen Männer benötigten Gold – und sie vermuteten es bei einem Zahnarzt.
Gleich pochten sie, wiederum sehr kräftig, an unsere Wohnungstür. Das war so üblich: Von der Klingel machten derartige Besucher keinen Gebrauch, weil das energische Klopfen mit einem Gewehr oder einer anderen Waffe jene, die man heimsuchen wollte, wirkungsvoller in Schrecken versetzte. Mein Bruder öffnete die Tür und sagte höflich, wenn auch etwas zu laut: »Was wünschen Sie?« Ich stand neben ihm. Im halbdunklen Treppenhaus sahen wir drei Soldaten in den Uniformen der Wehrmacht, alle nur wenig über zwanzig Jahre alt. Sie schrien »Hände hoch«, ihre Waffen waren auf uns gerichtet. Ob hier Untergrundkämpfer versteckt seien – wurden wir in rüdem Ton gefragt. Unsere verneinende Antwort schien sie nicht zu überraschen. Dann richteten sie ihre Pistolen mit grimmiger Miene auf unseren Kleiderschrank und forderten mich auf, ihn zu öffnen. Freilich waren auch hier Widerstandskämpfer nicht zu finden. Nun schauten die militärischen Ordnungshüter hinter die Gardinen, immer mit gezogener Waffe.
Dann gingen sie unvermittelt zur Sache über. Nicht mehr brüllend, sondern leise drohend wollten sie wissen, wo mein Bruder sein Gold aufbewahre und meine Mutter ihren Schmuck. Einer von ihnen bedrohte meine Mutter, mein Bruder wagte es, vorsichtig zu protestieren, und bekam zu hören: »Maul halten.« Gleichsam als Entschuldigung sagte er, jeder Sohn habe doch nur eine Mutter. Der Soldat ließ sich vernehmen: »Und jede Mutter hat nur einen Sohn.« Die Situation war komisch und gefährlich zugleich. Niemand von uns wagte es, auch nur zu lächeln, geschweige denn, den Soldaten darauf aufmerksam zu machen, daß dies nicht ganz stimme. Er hätte ja, von den frechen Juden gereizt, von
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