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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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da, der Klang der aufgeregten Zeit.
    Aber sie schauten, dessen war ich sicher, anders aus als jene, die Adolf Hitler nach Polen geschickt hatte. Wir gingen schnell zurück, zu den Unsrigen. Auch sie waren verwirrt, auch sie meinten, es seien keine deutschen Flieger, vielleicht kämen sie aus der Sowjetunion. Was hatte Stalin im Sinn? Wollte er Polen verteidigen und beschützen?
    Wozu sonst hätte er seine Flugzeuge hierhergeschickt? Etwa um den Deutschen, den Siegern, zu helfen? In unserer elenden Einsamkeit war nichts, gar nichts zu erfahren. Es wurde also beschlossen, daß drei von unserer Gruppe mit unserem Lastwagen ins nächste, angeblich größere Dorf fahren sollten, um sich zu erkundigen, was denn los sei. Einen hatte man ausgewählt, weil er als der politisch umsichtigste Kopf galt, einen zweiten, weil er gut Russisch sprechen konnte, und schließlich mich, falls eine Verständigung mit Deutschen erforderlich sein sollte.
    In jenem nächsten Dorf wartete auf uns eine Überraschung: Ein mit der Schreibmaschine geschriebener Anschlag über die Ermordung von Hitler, Göring und Goebbels, über die Kapitulation Deutschlands und das Ende des Krieges. Wir haben es gern gelesen, aber glücklich waren wir nicht. Denn wir glaubten kein einziges Wort. Die Dorfbewohner, die wir befragten, zuckten mit den Achseln. Sie sagten uns, in einer etwas weiter weg gelegenen Ortschaft sei eine vor zwei Tagen einmarschierte russische Abteilung stationiert, dort würden wir vielleicht Auskunft erhalten.
    Wir fuhren hin, fanden aber bloß einen Wachtposten vor einem Haus, das offenbar als Kaserne diente. Von diesem Soldaten wollten wir wissen, in welcher Eigenschaft die Russen hier seien, ob sie für oder gegen die Polen, für oder gegen die Deutschen Partei nähmen. Aber er war wortkarg und machte einen grimmigen Eindruck. Schließlich belehrte er uns, recht selbstzufrieden, wie uns schien: »Wir sind für das Proletariat und für die Freiheit.« Da waren wir so klug als wie zuvor.
    Auf dem Rückweg trafen wir versprengte polnische Soldaten. Auch sie erzählten uns von der Kapitulation – doch nicht Deutschlands, sondern Warschaus. Die Stadt sei vollkommen zerstört. Und die Russen? Hitler und Stalin seien ein Herz und eine Seele und hätten Polen unter sich aufgeteilt. Wir fuhren rasch in unser Dorf zurück. Die Beratung mit meinem Bruder dauerte nur wenige Minuten: Wir waren uns gleich einig, daß es keinen Sinn habe, in Ostpolen zu bleiben oder weiter zu fliehen, daß wir in dieser neuen Situation keine andere Wahl hätten, als schleunigst nach Warschau zurückzukehren und zu sehen, ob unsere Eltern noch am Leben seien.
    Am nächsten Morgen wurden wir mit dem Lastwagen unserer Gruppe zur nächsten Chaussee gebracht. Langsam kamen wir voran, in westlicher Richtung – mit Pferdewagen, mit Transporten der zerfallenden polnischen Armee und streckenweise zu Fuß. In Brest war eine Brücke über den Bug heil geblieben, im Fluß trieben aufgeschwemmte Kadaver von Pferden und Rindern. Auf der Landstraße war der Verkehr so dicht wie unlängst noch auf den Hauptstraßen Warschaus – der Verkehr in beiden Richtungen: Die einen wollten nach Hause, obwohl dort jetzt die Deutschen waren; die anderen in den allem Anschein nach schon sowjetisch besetzten Teil Polens. Je mehr wir in westlicher Richtung vorankamen, desto häufiger hörten wir, Warschau sei in einem so schrecklichen Zustand, daß man viele Straßen überhaupt nicht wiederfinden könne. Das letzte Stück des Weges, beinahe vierzig Kilometer, mußten wir zu Fuß gehen.
    In der Tat machte die einstige polnische Hauptstadt den Eindruck eines einzigen Trümmerfelds: Die meisten Häuser waren zerstört, die anderen schienen, da keine Fenster heil geblieben waren, ebenfalls ruiniert und unbewohnt. Mein Bruder und ich – wir waren vollkommen erschöpft, wir hatten seit bald einer Woche nur sehr wenig geschlafen, aber wir wollten uns nicht ausruhen. So müde wir auch waren, wir gingen, je mehr wir uns dem Ziel näherten, immer schneller. Mit jeder Stunde, mit jeder Minute wuchsen unsere Aufregung und unsere Furcht. Jetzt standen wir vor dem Haus, in dem wir gewohnt hatten, ja, dieses Haus gab es noch, es war nur teilweise zerstört: Die Wohnung unter der unsrigen lag in Schutt und Asche.
    Wir würden es nun erfahren: Ob sie, unsere Eltern, noch lebten oder nicht. Unsere Wohnung, das sahen wir jetzt, war bloß zur Hälfte erhalten. Zitternd klopften wir an die Tür, doch niemand

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