Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
Vom Netzwerk:
öffnete uns, erregt klopften wir noch einmal, noch ungeduldiger und lauter. Plötzlich hörten wir zögernde Schritte, die Tür wurde langsam und offenbar ängstlich geöffnet. Vor uns standen zwei, wie uns schien, sehr alte Menschen, die uns in der Dunkelheit nicht erkannten und denen offenbar der Schreck die Sprache verschlagen hatte – meine Mutter und mein Vater.

 
Die Jagd ist ein Vergnügen
     
    Kaum hatte sich Warschau ergeben, kaum war die Wehrmacht in die Stadt einmarschiert, da ging es gleich los, da begann schon das große Gaudium der Sieger, das unvergleichliche Vergnügen der Eroberer – die Jagd auf die Juden.
    Nach dem blitzschnellen, dem großartigen Triumph bot sich den ausgelassenen und begreiflicherweise abenteuerlustigen deutschen Soldaten auf den Straßen einiger Viertel der polnischen Hauptstadt ein überraschender Anblick. Was ihnen noch nie untergekommen war, dem begegneten sie hier auf Schritt und Tritt: Sie sahen verwundert und verblüfft zahllose orientalische, jedenfalls orientalisch anmutende Individuen mit ungewöhnlich langen Schläfenlocken und mit dichten, struppigen Bärten. Exotisch war auch deren Kleidung: schwarze und schmucklose, beinahe immer bis zu den Knöcheln reichende Kaftane und ebenfalls schwarze, meist runde Mützen oder Hüte.
    Aber man konnte sich mit diesen finsteren und doch sehr lebhaften Fremdlingen, anders als mit den Polen, ohne Mühe verständigen: Sie sprachen ein für deutsche Ohren sonderbar und eher häßlich klingendes Idiom. Doch im Unterschied zum Polnischen war diese Sprache, das Jiddisch, wenn sie nicht gar zu schnell gesprochen wurde, ganz gut zu verstehen. Warum die Sprache der Juden, so unschön sie auch sein mochte, für deutsche Ohren eben doch verständlich war, darüber machten sich die Soldaten keine Gedanken – es sei denn, es war unter ihnen ein Germanist, den die meist gutturalen Laute an die größten deutschen Dichter einer längst entschwundenen Epoche erinnerten, an die Verse des Walther von der Vogelweide und des Wolfram von Eschenbach. Denn auf ihrer Wanderung quer durch Europa hatten die Juden im Mittelalter die Sprache der deutschen Stämme, das Mittelhochdeutsch, mitgenommen und, wenn auch versetzt mit hebräischen, slawischen und anderen Elementen, erhalten und bewahrt.
    Die jungen Soldaten sahen also zum ersten Mal in ihrem Leben orthodoxe Juden. Sympathien weckten diese unheimlichen Bewohner Warschaus bei ihnen nicht, vielmehr Abscheu und vielleicht Widerwillen. Aber die Soldaten mochten auch eine unbewußte Zufriedenheit empfinden, wenn nicht gar eine gewisse Genugtuung. Denn während sie zu Hause, in Stuttgart, Schweinfurt oder Stralsund, die Juden von den reinrassigen Deutschen, den Ariern, in der Regel nicht zu unterscheiden vermochten, konnten sie jetzt endlich jene sehen, die sie bisher nur als Karikaturen in deutschen Zeitungen kannten, zumal im »Stürmer«.
    Hier waren sie, die arglistigen und abstoßenden Feinde des deutschen Volkes, die Untermenschen, vor denen der Führer beschwörend zu warnen pflegte und über die noch häufiger und noch viel anschaulicher der kleine Doktor sprach, der Reichsminister Goebbels. Jetzt begriffen die siegreichen Soldaten, was man ihnen seit Jahren erklärt und gepredigt hatte: Die vielen Juden auf den Straßen Warschaus – das waren die schrecklichen asiatischen Horden, die die Europäer bedrohten und die den Ariern, den Deutschen vor allem, nach dem Leben trachteten.
    Daß diese Untermenschen, die freilich eher einen ängstlichen als widerborstigen Eindruck machten, Waffen trugen, war sehr unwahrscheinlich, doch mußte es auf jeden Fall geprüft werden: Täglich fanden nun Razzien statt, nie wußte man, welches Viertel gerade an der Reihe war. Die Waffen, die die gutgelaunten Soldaten angeblich suchten, konnte man bei den frommen Juden, wie sehr man sich auch bemühte, nicht finden. Aber sie besaßen anderes, was diesen deutschen Männern, die jetzt eifrig für Ordnung sorgten, durchaus willkommen war: Ringe und Brieftaschen und etwas Bargeld und gelegentlich auch goldene Taschenuhren.
    Indes ging es nicht nur darum, die Juden zu berauben. Sie, die Feinde des Deutschen Reichs, sollten auch bestraft und erniedrigt werden. Das war nicht schwer zu machen: Die Soldaten hatten bald gemerkt, daß man orthodoxe Juden besonders schmerzhaft demütigen konnte, wenn man ihnen die Barte abschnitt. Zu diesem Zweck hatten sich die unternehmungslustigen Okkupanten mit langen Scheren versorgt.

Weitere Kostenlose Bücher