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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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verkündenden schwarzen Vögel mit ihrer gefährlichen, ihrer alles zerstörenden Last, die deutschen Flugzeuge also – sie waren schneller als unser Auto, sie waren immer schon da gewesen, und wenn wir sie vorübergehend nicht sahen und nicht hörten, dann sahen wir doch ihr Werk: Leichen und Ruinen, vernichtete Dörfer und zerstörte Städte. Wir fuhren so rasch wie möglich durch die gerade heftig bombardierte, die brennende, die menschenleere Stadt Siedlce. Wir überquerten in der Nähe der Stadt Brest den Fluß Bug. Wir fuhren weiter, immer weiter, bis wir schließlich jenen trostlosen Landstrich erreichten, der »Pripjetsümpfe« heißt. Dort blieben wir in einem kleinen, jämmerlichen Dorf stecken.
    Hier gab es keine Bomben, hier gab es nur Wiesen, Wälder und Weiden, Seen und Sümpfe und schäbige Bauernhütten. Immerhin konnte man in ihnen übernachten. Betten allerdings waren nicht vorhanden, die Bauern schliefen auf Bänken, die an den Wänden standen. Bänke, Schemel und Tische – das war das ganze Mobiliar. Keine Schränke, keine Kommoden? Nein, derartiges brauchten diese Dorfbewohner offenbar nicht. Sie besaßen nichts, was man in Schränken oder Kommoden hätte unterbringen können. Das Zivilisationsgefälle zwischen dem westlichen und dem östlichen Teil Polens war sehr groß – das wußte man natürlich. Daß es so enorm war, daß es in Polen Gegenden gab, in denen die Menschen nicht anders lebten als im Mittelalter, das habe ich erst im September 1939 erfahren.
    Dort, in der unheimlichen Stille dieses Dorfes, waren wir von der Welt abgeschnitten. Kein Radio, keine Telefone, keine Zeitungen. Auf der Suche nach Lektüre fragte ich die Bauern, ob sie denn keine Bibel hätten, kein Gebetbuch. Nein, sagten sie verwundert, so etwas hätten sie nie gehabt, Bücher könne man vielleicht bei dem Herrn Pfarrer finden, der freilich in der Stadt wohne, etwa zwanzig Kilometer entfernt. Wozu sollten denn für sie Bücher gut sein? Sie waren wie ein nicht geringer Teil des polnischen Volkes Analphabeten.
    Zu unserer Gruppe gehörte auch eine Achtzehnjährige, die vor drei Monaten das Abitur gemacht hatte. Wir gingen zusammen spazieren, auf schmalen, engen Pfaden zwischen feuchten Wiesen. Wir mußten aufpassen, daß wir nicht in einen Sumpf gerieten. Doch bald achteten wir nicht mehr auf die umliegenden Sümpfe, wir achteten aufeinander. Aber wir sind von unserem Pfad nicht abgekommen. Da sie wußte, daß ich aus Deutschland gekommen war, erzählte sie mir, in ihrer Schule habe man im Deutschunterricht eine besonders schöne Novelle behandelt, eine Liebesgeschichte, sehr zart und sehr traurig. Da sei ein Gedicht, das ihr besonders gefalle. Es beginne so:
     
    Heute, nur heute,
    Bin ich so schön;
    Morgen, ach morgen
    Muß Alles vergehn!
     
    Das Vergänglichkeitsmotiv, ganz einfach, scheinbar kunstlos ausgedrückt, hatte diese Achtzehnjährige beeindruckt. Das verwunderte mich nicht, denn ich wußte aus eigener Erfahrung, daß für dieses Motiv besonders empfänglich jene Menschen sind, die es gerade entdeckt hatten.
    Ein wenig prahlend, wenn auch nicht übertreibend, sagte ich beiläufig, ich hätte alle Gedichte und Novellen dieses Autors gelesen. Sie bat mich, ihr etwas über ihn zu erzählen. Er sei – erzählte ich ihr – ein stiller Jurist gewesen, ein kleiner Beamter und ein ganz großer Liebender, ein ungewöhnlicher freilich, der sich in sehr junge Mädchen verliebte. Einmal, als er schon verlobt war, wollte er sogar mit einer erst dreizehnjährigen Blondine anbändeln, die er später – inzwischen war seine erste Frau gestorben – geheiratet hat.
    So sprachen wir in den öden und wüsten Pripjetsümpfen über Theodor Storm und über »Immensee«. Da fiel mir der Vers ein:
     
    Kein Klang der aufgeregten Zeit
    Drang noch in diese Einsamkeit.
     
    Und wir sprachen über die Liebe. Deutsche und polnische Verse zitierend, gingen wir nebeneinander. Daß der Pfad enger wurde, sehr eng – es störte uns nicht. Wir kamen uns immer näher. Plötzlich blickte ich ihr in die Augen, und ich sah Tränen. Da habe ich getan, was am nächsten lag, was am einfachsten war. Ich habe sie geküßt, ihre feuchten Augen und dann wohl auch ihren Mund. Als ich in den blauen, den klaren Himmel aufblickte, da sah ich ungeheuer oben, nein, keine weiße Wolke, an die sich Brecht erinnert, als er an Marie A. dachte; dort sah ich drei oder vier Flugzeuge. Sie flogen so hoch, daß wir sie nicht fürchteten. Doch war er wieder

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