Mein Leben
ungeduldiges oder gar lautes Wort gehört. Bruno Walter habe, wird erzählt, einen falsch blasenden Flötisten mit den Worten belehrt: »Hier empfehle ich fis.« Von dieser Art war auch Simon Pullmann. Es sei, meinte er, die Ehrenpflicht der Juden, sogar unter diesen schrecklichen Bedingungen gute Musik gut zu spielen. Er erlaubte keinen Pfusch, er ließ keine Ausrede gelten, er probte lange und gründlich und hat so die anderen Dirigenten, die vielleicht dazu neigten, fünfe grade sein zu lassen – und wer konnte es ihnen verübeln? –, gezwungen, unermüdlich zu arbeiten und ein hohes Niveau anzustreben.
Da die Streicher des Orchesters den Bläsern hoch überlegen waren, konzentrierte sich Pullmann verständlicherweise zunächst auf Musik eben für Streicher. Man spielte Vivaldi und Boccherini, Bach und Mozart – bis hin zur Serenade in C-Dur von Tschaikowsky. Kummer gab es immer. Mal hatte man zwar das gesamte Notenmaterial für ein bestimmtes Werk, aber es fehlte die Partitur, mal hatte man die Partitur, aber es fehlten die Noten für die einzelnen Instrumente. Also mußte man sie von Hand kopieren. Doch niemals fehlte es an Freiwilligen, die dies ohne Entlohnung machten.
Sehr beliebt waren fünf der Brahmsschen Walzer für Klavier zu vier Händen. Sie wurden von Theodor Reiss, einem im Getto lebenden Komponisten, für Streichorchester bearbeitet – nachdem er von Pullmann erhalten hatte, was sich der arme Mann nicht leisten konnte: Notenpapier. Die Uraufführung dieser Transkription war überaus erfolgreich, Reiss wurde vom Dirigenten auf das Podium gebeten, wollte aber nicht nach vorn kommen. Man konnte gleich sehen, daß es sich nicht um das in solchen Situationen übliche Getue handelte. Schließlich kam er doch, verneigte sich rasch und linkisch und verschwand schnell wieder im Publikum. Er schämte sich seines Aufzugs: Er besaß offenbar kein Jackett, trug nur einen ungewöhnlich schäbigen Mantel.
Auch Kammermusik, vor allem Quartette und Quintette, ließ Pullmann von seinem virtuosen Streichorchester spielen, und es spielte wunderbar: Beethovens Große Fuge op. 133, das Adagio aus Bruckners Quintett oder das Quartett von Verdi. Zuweilen klagten die Musiker, denen das traditionelle Repertoire lieber gewesen wäre, Pullmann verlange von ihnen zuviel. Letztlich gaben sie immer nach – und haben es nicht bedauert.
Es läßt sich kaum vorstellen, mit welcher Hingabe damals geprobt, mit welcher Begeisterung musiziert wurde. Als wir 1988 im Zweiten Deutschen Fernsehen das »Literarische Quartett« vorbereiteten, fragte man mich, welche Musik ich mir für den Vorspann und den Abspann wünsche. Ich bat um die ersten Takte des Allegro molto aus Beethovens Quartett opus 59, Nr. 3, C-Dur, das im Getto vom Streichorchester besonders oft und besonders gut aufgeführt wurde. Wann immer ich beim »Literarischen Quartett« diese Takte von Beethoven höre, denke ich an die Musiker, die sie im Getto gespielt haben. Sie wurden alle vergast.
Sosehr die Werke für Streichorchester im Vordergrund standen, die symphonische Musik wurde, allen Hindernissen zum Trotz, keineswegs vernachlässigt. Man spielte Haydn und Mozart, Beethoven und Schubert, Weber und Mendelssohn-Bartholdy, Schumann und Brahms, also, wie überall in der Welt, vornehmlich deutsche Musik – doch auch Berlioz und Tschaikowsky, Grieg und Dvořák. Kurz und gut: Abgesehen von moderner Musik, die man nicht besetzen konnte, spielte man alles, was sich finden ließ. Wirklich alles?
Wenige Monate nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Warschau lassen die deutschen Behörden das Denkmal Frederic Chopins sprengen. Am 3. Juni 1940 untersagt das Propagandaamt für das Generalgouvernement Polen die Aufführung von Musikwerken, die mit der polnischen Nationaltradition zusammenhängen. Gezeichnet ist die Anordnung vom Stellvertreter des Generalgouverneurs Hans Frank, dem Staatssekretär Josef Bühler. Wie sich bald herausstellt, betrifft dieses Verbot auch das Gesamtwerk Chopins.
Im April 1942 wird die Verordnung eingeschränkt: Einige Werke Chopins sowie des in Polen nicht ohne Grund sehr geschätzten Komponisten Mieczysław Karlowicz – er lebte von 1876 bis 1909 – sind jetzt wieder genehmigt, doch gilt diese Verordnung, wie ausdrücklich vermerkt ist, nicht für den »jüdischen Wohnbezirk« in Warschau. So durfte im Getto weiterhin kein Takt von Chopin erklingen, nur bisweilen hat dieser oder jener junge Pianist, höchst leichtsinnig, als Zugabe ein weniger
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