Mein Leben
bekanntes Stück von ihm gespielt und dann die Frage, von wem das denn gewesen sei, ob nicht gar von Chopin, ironisch lächelnd mit dem Hinweis auf Robert Schumann beantwortet.
Zunächst veranstaltete man die Konzerte im Gebäude des alten Tanzlokals und Varietes »Melody Palace«, das zufällig an die Gettomauer grenzte. Später fand man einen besseren und größeren Saal: ein modernes Kino, das nie in Betrieb gewesen war, weil der Bau erst unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg beendet wurde. Der Saal dieses Kinos »Femina« faßte neunhundert Plätze, man konnte ihn glücklicherweise leicht und rasch für Konzertzwecke herrichten.
Für Kammermusik – es gab im Getto drei Streichquartette, und alle drei waren gut – und für Auftritte von Solisten verwendete man kleinere Säle, vor allem eine Volksküche, in der die Konzerte nachmittags stattfanden, kaum daß die (jämmerliche) Suppe ausgegeben war. Im Saal roch es nach Kohl und Rüben, aber man ließ sich nicht stören, man hörte Schubert oder Brahms. Im Winter waren die Säle oft nicht geheizt, dann saß man eben in Mänteln – die Zuhörer und die Musiker. Wenn der Strom abgeschaltet wurde, behalf man sich mit Karbid-Lampen.
Es gab auch Schwierigkeiten ganz anderer Art. Gehungert haben wir alle – mehr oder weniger. Nun können Geiger oder Cellisten, die hungrig sind, dennoch schön Geige oder Cello spielen. Für Trompeter oder Posaunisten, deren körperliche Anstrengung größer ist, gilt das nicht: Der Hunger beeinträchtigt die Leistung der Bläser. Daher hat ein vermögender Arzt im Getto das ganze Orchester vor den Konzerten (sie begannen meist um 12 Uhr mittags) zu einem Frühstück eingeladen – damit die Bläser besser blasen konnten und die Streicher in besserer Laune waren.
Neben Solisten, die schon vor dem Krieg in Polen anerkannt waren, debütierten im Getto auch junge Geiger, Pianisten oder Sänger. Ich entsinne mich an einen besonders sympathischen und intelligenten Musiker namens Richard Spira, neunzehn oder zwanzig Jahre alt. Er spielte Beethovens Klavierkonzert in Es-dur im Getto zum ersten Mal mit einem Orchester. Sein Lehrer, einer der bedeutendsten polnischen Klavierpädagogen, wohnte damals in Warschau, aber, da er kein Jude war, natürlich außerhalb des Gettos. So konnte Spira ihn, obwohl sie kaum zwei Kilometer voneinander entfernt waren, nicht aufsuchen, und der Lehrer durfte nicht zu ihm kommen. Aber noch gab es im Getto Telefone, wenn auch wenige. Das war die Lösung: Spira spielte seinem Lehrer das ganze Konzert am Telefon vor und erhielt von ihm in stundenlangen Gesprächen genaue Unterweisungen. Der Triumph des Schülers war zugleich, der Gettomauer zum Trotz, der seines Lehrers.
Die erfolgreichste, die populärste Figur des Musiklebens im Getto war eine ganz junge schwarzhaarige Frau mit mädchenhafter Anmut, eine Sopranistin, die vor dem Krieg noch niemand kannte: Marysia Ajzensztadt, gerade zwanzig Jahre alt. Die schöne und reizvolle Sängerin debütierte mit Arien von Gluck und Mozart, mit Liedern von Schumann und Brahms. Um ihren Unterhalt zu verdienen, trat sie sehr bald auch in einem Cafe auf (in den Kaffeehäusern gab es keinen Kaffee, aber in manchen musikalische Darbietungen), wo sie Johann Strauß sang und Franz Lehár. Das Publikum in dem täglich überfüllten Cafe war begeistert – und die Kritik ebenfalls.
Kritik? In der Tat: Die von den deutschen Behörden genehmigte, im Warschauer Getto in polnischer Sprache zweimal wöchentlich erscheinende Zeitung »Gazeta Zydowska« veröffentlichte auch Konzertrezensionen. Der Kritiker, Wiktor Hart, bewunderte Marysia Ajzensztadt. Ihr Gesang – schrieb er – »zeugt von höchster Kunst, von Maß und Einfachheit, sie hat es in kürzester Zeit zu wahrer Meisterschaft gebracht«. Wer war dieser enthusiastische Wiktor Hart? Wenn heute sein Name in zeitgeschichtlichen Büchern auftaucht, dann steht in Klammern ein Fragezeichen oder es heißt: »nicht ermittelt«. Doch zwischen uns sei Wahrheit: Ich war es.
Ein Bekannter, der in der »Gazeta Zydowska« für das Feuilleton zuständig war, wußte, daß ich mich für Musik interessierte, und fragte mich, ob ich ihm einen Rezensenten empfehlen könnte. Ich empfahl ihm einen stillen Mann, der ein ordentlicher Geiger und ein vorzüglicher Musikkenner war. Er schrieb drei oder vier schöne Besprechungen und wurde dann krank. Man bat mich, ihn zu vertreten. Ich zögerte, denn ich hatte ja nie im Leben Kritiken publiziert. Ich
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