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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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obwohl, sondern gerade weil diese Idyllen nichts mit ihrer Umgebung gemein hatten.
    In die Konzerte drängten sich, so schien es mir damals, die Verlassenen und die Einsamen und vor allem die Liebenden: Die zueinandergefunden hatten, fühlten sich durch die Musik bestätigt. Und sie zitierten Shakespeare: »Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist…« Eines Tages, nach einem besonders schönen Konzert, bat ich Tosia, mir zu versprechen, daß sie, sollte sie überleben und ich nicht, immer beim Allegretto aus Beethovens Siebter an mich denken werde. Dieser rührseligen Anwandlung, die mich plötzlich überkam, stimmte sie, ich war etwas überrascht, nicht zu: Das lasse sich doch nicht mehr ändern, sie werde keineswegs nur beim Allegretto, sie werde bei aller Musik, die wir hier gemeinsam hören, an mich denken müssen. So sentimental redeten wir miteinander.
    In der Musik also erkannten sich die Paare wieder, die jungen ebenso wie die älteren. Und in der Dichtung? Literarische Veranstaltungen gab es im Getto auch, doch viel seltener als Konzerte, und sie hatten in der Regel nicht viel Zulauf. Es trifft schon zu – im Grunde ist das eine Banalität –, daß die Musik auf viele Menschen in Grenzsituationen unmittelbarer wirkt als das gesprochene Wort, daß sie stärker Gefühle zu wecken und die Phantasie anzuregen vermag.
    Lange gab es dieses Glück nicht: Die Symphoniekonzerte wurden bald von den deutschen Behörden unterbunden. Konnte der Kommissar für den jüdischen Wohnbezirk die Qualität der Konzerte nicht ertragen? Es sei nicht zulässig – heißt es in einem Brief an den Obmann des »Judenrates« –, daß im Getto Werke von »arischen« Komponisten aufgeführt würden. Daher seien die Orchesterkonzerte ab dem 15. April 1942 für zwei Monate untersagt. Solistenkonzerte im kleinen Rahmen konnten noch stattfinden, mußten aber auf die Musik von jüdischen Komponisten beschränkt werden. Man spielte jetzt vorwiegend Mendelssohn, Offenbach, Meyerbeer oder Anton Rubinstein und, eher der Not gehorchend, auch Operettenkomponisten wie Paul Abraham, Leo Fall oder Emmerich Kaiman.
    Ich hörte auf, Kritiken zu schreiben, und wandte mich einer anderen, in dieser Situation, wie ich glaubte, ungleich wichtigeren Aufgabe zu: Ich organisierte im Hauptgebäude des »Judenrates«, in dem sich ein großer Saal befand, Solisten- und Kammermusikkonzerte. In der ersten Hälfte spielte ein Pianist oder ein Streichquartett, in der zweiten trat eine Sängerin auf oder ein Geiger. Die Eintrittskarten waren, wie übrigens bei allen anderen Konzerten im Getto, sehr billig, die gesamten Einkünfte kamen den Musikern zugute.
    Uns jüngeren Leuten reichte das nicht, wir konnten offenbar nicht genug Musik bekommen. So veranstalteten wir regelrechte Schallplattenkonzerte. Freilich gab es Platten nur in begrenzter Zahl, und daß es fast immer die alten, meist zerkratzten Schellackplatten waren, konnte unserer Gier nach Musik nichts anhaben. Wir trafen uns in engen Wohnungen, fünfzehn oder gar achtzehn Personen, soviel in einem Zimmer Platz fanden. Eigentlich waren solche Treffen verboten. Wir waren waghalsig genug, uns darum nicht zu kümmern. Jeder Gast brachte etwas mit – eine Suite oder Partita von Bach, ein Violinkonzert von Mozart, eine Sonate von Beethoven oder eine Symphonie von Brahms.
    Mir will es scheinen, daß in unserem ganzen Leben Musik niemals eine derartige Rolle gespielt hat wie in jener düsteren Zeit. Hat uns Mozart so entzückt und begeistert, obwohl wir hungrig waren und uns unentwegt die Angst in den Gliedern saß – oder vielleicht gerade deshalb? Jedenfalls darf man es mir glauben: Im Warschauer Getto ist Mozart noch schöner gewesen. In diesem Abschnitt meines Lebens hatte also die deutsche Musik die deutsche Literatur verdrängt. Bald sollte sich das Blatt wieder wenden. Da gab es für uns keine Musik – aber doch, höchst unerwartet, Literatur, vor allem deutsche.

 
Todesurteile mit Wiener Walzern
     
    Das Verbot der Symphoniekonzerte hat die Musiker und die Freunde der Musik nicht nur betrübt, sondern auch beunruhigt. Es stellte sich bald heraus, daß dieser vergleichsweise harmlose Umstand – schließlich war ein großer Teil der Bevölkerung an den Konzerten nicht interessiert – zu einer Anzahl von Vorfällen, Maßnahmen und auch Gerüchten gehörte, deren Gleichzeitigkeit keineswegs Zufall war, daß sie vielmehr, allesamt im Frühjahr 1942, von einer geplanten generellen Veränderung der

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