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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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genau durchgeführt, dann werden auch die Geiseln wieder freigelassen, andernfalls werdet ihr alle aufgeknüpft, dort drüben.« Er zeigte mit der Hand auf den Kinderspielplatz auf der gegenüberliegenden Seite der Straße. Es war eine für die Verhältnisse im Getto recht hübsche Anlage, die erst vor wenigen Wochen feierlich eingeweiht worden war: Eine Kapelle hatte aufgespielt, Kinder hatten getanzt und geturnt, es waren, wie üblich, Reden gehalten worden.
    Jetzt also drohte Höfle den ganzen »Judenrat« und die im Konferenzraum anwesenden Juden auf diesem Kinderspielplatz aufzuhängen. Wir spürten, daß der vierschrötige Mann, dessen Alter ich auf mindestens vierzig schätzte – in Wirklichkeit war er erst 31 Jahre alt –, nicht die geringsten Bedenken hätte, uns sofort erschießen oder eben »aufknüpfen« zu lassen. Schon das (übrigens unverkennbar österreichisch gefärbte) Deutsch zeugte von der Primitivität und Vulgarität dieses SS-Offiziers. Er stammte, wie ich viel später erfahren habe, aus Salzburg und hatte angeblich einen Beruf erlernt: Er soll Automechaniker gewesen sein und später im Salzburger Wasserwerk gearbeitet haben.
    So schnoddrig und sadistisch Höfle die Sitzung eingeleitet hatte, so sachlich diktierte er einen mitgebrachten Text, betitelt »Eröffnungen und Auflagen für den ›Judenrat‹«. Freilich verlas er ihn etwas mühselig und schwerfällig, mitunter stockend: Er hatte dieses Dokument weder geschrieben noch redigiert, er kannte es nur flüchtig. Die Stille im Raum war unheimlich, und sie wurde noch intensiver durch die fortwährenden Geräusche: das Klappern meiner alten Schreibmaschine, das Klicken der Kameras einiger SS-Führer, die immer wieder fotografierten, und die aus der Ferne kommende, die leise und sanfte Weise von der schönen, blauen Donau. Haben diese eifrig fotografierenden SS-Führer gewußt, daß sie an einem historischen Vorgang teilnahmen?
    Von Zeit zu Zeit warf mir Höfle einen Blick zu, um sich zu vergewissern, daß ich auch mitkäme. Ja, ich kam schon mit, ich schrieb, daß »alle jüdischen Personen«, die in Warschau wohnten, »gleichgültig welchen Alters und Geschlechts«, nach Osten umgesiedelt würden. Was bedeutete hier das Wort »Umsiedlung«? Was war mit dem Wort »Osten« gemeint, zu welchem Zweck sollten die Warschauer Juden dorthin gebracht werden? Darüber war in Höfles »Eröffnungen und Auflagen für den ›Judenrat‹« nichts gesagt. Wohl aber wurden sechs Personenkreise aufgezählt, die von der Umsiedlung ausgenommen seien – darunter alle arbeitsfähigen Juden, die kaserniert werden sollten, alle Personen, die bei deutschen Behörden oder Betriebsstellen beschäftigt waren oder die zum Personal des »Judenrats« und der jüdischen Krankenhäuser gehörten. Ein Satz ließ mich plötzlich aufhorchen: Die Ehefrauen und Kinder dieser Personen würden ebenfalls nicht »umgesiedelt«.
    Unten hatte man inzwischen eine andere Platte aufgelegt: Nicht laut zwar, doch ganz deutlich konnte man den frohen Walzer hören, der von »Wein, Weib und Gesang« erzählte. Ich dachte mir: Das Leben geht weiter, das Leben der Nichtjuden. Und ich dachte an sie, die jetzt in der kleinen Wohnung mit einer graphischen Arbeit beschäftigt war, ich dachte an Tosia, die nirgends angestellt und also von der »Umsiedlung« nicht ausgenommen war.
    Höfle diktierte weiter. Jetzt war davon die Rede, daß die »Umsiedler« fünfzehn Kilogramm als Reisegepäck mitnehmen dürften sowie »sämtliche Wertsachen, Geld, Schmuck, Gold usw.«. Mitnehmen durften oder mitnehmen sollten? – fiel mir ein. Noch am selben Tag, am 22. Juli 1942, sollte der Jüdische Ordnungsdienst, der die Umsiedlungsaktion unter Aufsicht des »Judenrates« durchführen mußte, 6000 Juden zu einem an einer Bahnlinie gelegenen Platz bringen, dem Umschlagplatz. Von dort fuhren die Züge in Richtung Osten ab. Aber noch wußte niemand, wohin die Transporte gingen, was den »Umsiedlern« bevorstand.
    Im letzten Abschnitt der »Eröffnungen und Auflagen« wurde mitgeteilt, was jenen drohte, die etwa versuchen sollten, »die Umsiedlungsmaßnahmen zu umgehen oder zu stören«. Nur eine einzige Strafe gab es, sie wurde am Ende eines jeden Satzes refrainartig wiederholt: »… wird erschossen.« Als Höfle das Diktat beendet hatte, fragte ein Mitglied des »Judenrates«, ob auch die Angestellten der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe von der Umsiedlung ausgenommen seien. Höfle bejahte rasch. Niemand wagte

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