Mein Leben
Verhältnisse im Getto zeugten.
Damals, wahrscheinlich im März, hörte ich zum ersten Mal, daß Deutsche irgendwo in Polen Juden mit Hilfe von Autoabgasen, die in kleine Räume geleitet wurden, umbrachten. Ich glaubte es nicht – und ich kannte auch niemanden, der dies für möglich hielt. Von Tag zu Tag wuchs die Bevölkerung des Gettos. Es kamen Juden, die aus Ortschaften im Distrikt Warschau umgesiedelt, richtiger: vertrieben wurden, es kamen auch Transporte deutscher und tschechischer Juden, vorwiegend aus Berlin, Hannover und Prag. Die Gettogrenzen wurden verändert und bei dieser Gelegenheit einige Ausgänge geschlossen.
In der Nacht vom 17. auf den 18. April haben uniformierte Deutsche auf Grund einer Namensliste 53 Juden aus ihren Wohnungen abgeholt und sofort – schon in der Toreinfahrt oder in unmittelbarer Nähe des jeweiligen Hauses – von hinten erschossen. Es waren meist politische, im Untergrund tätige Aktivisten, die offenbar und nicht zu Unrecht als Anführer eines eventuellen Widerstands galten. Im Mai und Juni 1942 folgten weitere Terrorakte. Allnächtlich wurden Juden, vorwiegend Männer, verhaftet und sofort erschossen; es fiel auf, daß es meist Intellektuelle waren, darunter viele Ärzte. Das Getto erstarrte vor Schrecken.
Anfang Juni erschien wieder einmal eine deutsche Film-Equipe und drehte zahlreiche gestellte Szenen. Auf den Straßen wurden gutaussehende und ordentlich gekleidete junge Jüdinnen verhaftet und ins Hauptgebäude des Judenrates gebracht; sie mußten sich ausziehen und wurden zu obszönen sexuellen Posen und Handlungen gezwungen. Ob die Equipe den Auftrag hatte, derartiges zu filmen, oder ob es sich um ihr Privatvergnügen handelte, ist nicht bekannt.
Zugleich gingen in diesen Wochen viele Gerüchte um, die sich meist gegenseitig widersprachen. Es hieß, im Getto sollten, so habe es die Regierung des Generalgouvernements Polen beschlossen, 120000 Juden bleiben, um der Wehrmacht mit der Produktion vorwiegend von Uniformen zu dienen. Man nahm auch an, die deutschen Beamten, insbesondere das Amt des Kommissars für den jüdischen Wohnbezirk, seien an der Aufrechterhaltung des Gettos interessiert, um ihre Posten nicht zu verlieren und nicht an die Front zu müssen. So versuchte man, sich zu trösten. Letztlich nahm niemand diese mehr oder weniger optimistischen Gerüchte ernst, es herrschte Panik, man befürchtete eine Katastrophe.
Mitte Juli intervenierte Adam Czerniaków mehrfach bei dem Kommissar für den jüdischen Wohnbezirk, Heinz Auerswald, wegen einer großen Zahl von Kindern (etwa 2000), die Lebensmittel schmuggelten, auf den Warschauer Straßen bettelten und daher von der polnischen Polizei aufgegriffen und ins Getto gebracht wurden. Sie befanden sich im Arrest. Czerniaków, der von Auerswald gehört hatte, daß dessen Frau hochschwanger sei, glaubte, aus diesem Umstand Nutzen für die verhafteten jüdischen Kinder ziehen zu können.
Er verfiel auf eine rührselige Idee: Er bestellte bei Tosia, die sich damals als Graphikerin versuchte und deren Arbeiten ihm seine Sekretärin bei verschiedenen Gelegenheiten gezeigt hatte, ein besonderes Geschenk für Auerswald – ein Fotoalbum für das noch nicht geborene Kind. Das mit allerlei Zeichnungen und Bildern ausgestattete Album sollte vor allem Platz für Fotos bieten, die die einzelnen Stationen im Leben des Kindes illustrierten: den ersten Zahn, den ersten Geburtstag, den ersten Schultag und ähnliches.
Tosia mußte dieses Album blitzschnell herstellen, sie arbeitete Tag und Nacht und schaffte es für die Unterredung am 20. Juli im allerletzten Augenblick: Czerniaków war sichtlich zufrieden und Auerswald angeblich gerührt. Er versprach, die Entlassung der verhafteten Kinder unter bestimmten Bedingungen schon in den nächsten Tagen zu genehmigen. Tosia war glücklich, zur Errettung so vieler Kinder beigetragen zu haben. Nur hatte Auerswald in den nächsten Tagen nichts mehr zu sagen, er war von der SS entmachtet worden. Sein Kind, dessen Lebensweg Tosia farbenprächtig geplant hatte, starb schon bald nach der Geburt.
Am 20. und 21. Juli war für jedermann klar, daß dem Getto Schlimmstes bevorstand: Zahlreiche Menschen wurden auf der Straße erschossen, viele als Geiseln verhaftet, darunter mehrere Mitglieder und Abteilungsleiter des »Judenrates«. Beliebt waren die Mitglieder des »Judenrates«, also die höchsten Amtspersonen im Getto, keineswegs. Gleichwohl war die Bevölkerung erschüttert: Die brutale
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