Mein Leben
Verhaftung hat man als ein düsteres Zeichen verstanden, das für alle galt, die hinter den Mauern lebten.
Am 22. Juli fuhren vor das Hauptgebäude des »Judenrates« einige Personenautos vor und zwei Lastwagen mit Soldaten, die zwar deutsche Uniformen trugen, aber, wie sich später herausstellte, durchaus keine Deutschen waren, sondern Letten, Litauer und Ukrainer. Das Haus wurde umstellt. Den Personenwagen entstiegen etwa fünfzehn SS-Männer, darunter einige höhere Offiziere. Einige blieben unten, die anderen begaben sich forsch und zügig ins erste Stockwerk. Doch gingen sie nicht in den linken Flügel, wo unter anderem das große Zimmer war, in dem sich das Übersetzungs- und Korrespondenzbüro befand, sondern in den rechten Flügel – zum Amtszimmer des Obmanns.
Im ganzen Gebäude wurde es schlagartig still, beklemmend still. Es sollten wohl, vermuteten wir, weitere Geiseln verhaftet werden. In der Tat erschien auch gleich Czerniakóws Adjutant, der von Zimmer zu Zimmer lief und dessen Anordnung mitteilte: Alle anwesenden Mitglieder des »Judenrates« hätten sofort zum Obmann zu kommen. Wenig später kehrte der Adjutant wieder: Auch alle Abteilungsleiter sollten sich im Amtszimmer des Obmanns melden. Wir nahmen an, daß für die offenbar geforderte Zahl von Geiseln nicht mehr genug Mitglieder des »Judenrates« (die meisten waren ja schon am Vortag verhaftet worden) im Haus waren.
Kurz darauf kam der Adjutant zum dritten Mal: Jetzt wurde ich zum Obmann gerufen, jetzt bin wohl ich an der Reihe, dachte ich mir, die Zahl der Geiseln zu vervollständigen. Aber ich hatte mich geirrt. Auf jeden Fall nahm ich, wie üblich, wenn ich zu Czerniaków ging, einen Schreibblock mit und zwei Bleistifte. In den Korridoren sah ich stark bewaffnete Posten. Die Tür zu dem großen, für mein Gefühl etwas zu pompös eingerichteten Amtszimmer Czerniakóws war, anders als sonst, offen. Er stand, umgeben von einigen höheren SS-Offizieren, hinter seinem Schreibtisch. War er etwa verhaftet? Als er mich sah, wandte er sich an einen der SS-Offiziere, einen wohlbeleibten, glatzköpfigen Mann – es war der Leiter der allgemein »Ausrottungskommando« genannten Hauptabteilung Reinhard beim SS- und Polizeiführer, der SS-Sturmbannführer Höfle. Ihm wurde ich von Czerniaków vorgestellt, und zwar mit den Worten: »Das ist mein bester Korrespondent, mein bester Übersetzer.« Also war ich nicht als Geisel gerufen.
Höfle wollte wissen, ob ich stenographieren könne. Da ich verneinte, fragte er mich, ob ich imstande sei, schnell genug zu schreiben, um die Sitzung, die gleich stattfinden werde, zu protokollieren. Ich bejahte knapp. Daraufhin befahl er, das benachbarte Konferenzzimmer vorzubereiten. Auf der einen Seite des langen, rechteckigen Tisches nahmen acht SS-Offiziere Platz, unter ihnen Höfle, der den Vorsitz hatte. Auf der anderen saßen die Juden: neben Czerniaków die noch nicht verhafteten fünf oder sechs Mitglieder des »Judenrates«, ferner der Kommandant des Jüdischen Ordnungsdiensts (also der Gettomiliz), der Generalsekretär des »Judenrates« und ich als Protokollant.
Ich wollte den Text gleich in die Maschine tippen. Da ich wußte, daß man sich auf unsere alten, ziemlich ramponierten Schreibmaschinen nicht verlassen konnte, ließ ich mir aus meinem Büro gleich zwei Maschinen bringen, um auch dann sofort weiterschreiben zu können, wenn sich etwa das Farbband verheddern sollte, was nicht selten passierte. An den beiden zum Konferenzraum führenden Türen waren Wachtposten aufgestellt. Sie hatten, glaube ich, nur eine einzige Aufgabe: Furcht und Schrecken zu verbreiten. Die auf die Straße hinausgehenden Fenster standen an diesem warmen und besonders schönen Tag weit offen, was den Sturmbannführer und seine Leute nicht störte. So konnte ich genau hören, womit sich die vor dem Haus in ihren Autos wartenden SS-Männer die Zeit vertrieben: Sie hatten wohl ein Grammophon im Wagen, einen Kofferapparat wahrscheinlich, und hörten Musik und nicht einmal schlechte. Es waren Walzer von Johann Strauß, der freilich auch kein richtiger Arier war. Das konnten die SS-Leute nicht wissen, weil Goebbels die nicht ganz rassereine Herkunft des von ihm geschätzten Komponisten verheimlichen ließ.
Höfle eröffnete die Sitzung mit den Worten: »Am heutigen Tag beginnt die Umsiedlung der Juden aus Warschau. Es ist euch ja bekannt, daß es hier zuviel Juden gibt. Euch, den »Judenrat«, beauftrage ich mit dieser Aktion. Wird sie
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