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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Irgendwann, als wir allein in unserem Bürozimmer waren, weil die beiden anderen dort arbeitenden Angestellten schon nach Hause gegangen waren, legte ich meine Hand auf ihre Schulter und sah sie an. Sie sagte sofort, mit sanfter Entschiedenheit: »Laß das.« Dann fügte sie hinzu, als wolle sie mir eine Freude bereiten: »Lassen wir das. Du hast Tosia – und das ist gut so, und dabei soll es bleiben.« Ich habe Gustawa nie wieder berührt – und ich habe sie nie vergessen.
    Ihr also, Gustawa Jarecka, diktierte ich am 22. Juli 1942 das Todesurteil, das die SS über die Juden von Warschau gefällt hatte. Als ich bei der Aufzählung der Personengruppen angelangt war, die von der »Umsiedlung« ausgenommen sein sollten, und dann der Satz folgte, daß sich diese Regelung auch auf die Ehefrauen beziehe, unterbrach Gustawa das Tippen des polnischen Textes und sagte, ohne von der Maschine aufzusehen, schnell und leise: »Du solltest Tosia noch heute heiraten.«
    Sofort nach diesem Diktat schickte ich einen Boten zu Tosia: Ich bat sie, gleich zu mir zu kommen und ihr Geburtszeugnis mitzubringen. Sie kam auch sofort und war ziemlich aufgeregt, denn die Panik in den Straßen wirkte ansteckend. Ich ging mit ihr schnell ins Erdgeschoß, wo in der Historischen Abteilung des »Judenrates« ein Theologe arbeitete, mit dem ich die Sache schon besprochen hatte. Als ich Tosia sagte, wir würden jetzt heiraten, war sie nur mäßig überrascht und nickte zustimmend.
    Der Theologe, der berechtigt war, die Pflichten eines Rabbiners auszuüben, machte keine Schwierigkeiten, zwei Beamte, die im benachbarten Zimmer tätig waren, fungierten als Zeugen, die Zeremonie dauerte nur kurz, und bald hatten wir eine Bescheinigung in Händen, derzufolge wir bereits am 7. März getraut worden waren. Ob ich in der Eile und Aufregung Tosia geküßt habe, ich weiß es nicht mehr. Aber ich weiß sehr wohl, welches Gefühl uns überkam: Angst – Angst vor dem, was sich in den nächsten Tagen ereignen werde. Und ich kann mich noch an das Shakespeare-Wort erinnern, das mir damals einfiel: »Ward je in dieser Laun’ ein Weib gefreit?«
    Hermann Höfle hat die Deportation der Juden aus Warschau nach Treblinka vom 22. Juli bis September 1942 organisiert und überwacht. Nach dem Krieg wurde er von amerikanischen Behörden verhaftet und interniert. Doch gelang es ihm zu fliehen. 1961 wurde er in Salzburg festgenommen. Am 2. Januar 1962 hat mich das Amtsgericht Hamburg als Zeuge in der Ermittlung gegen Höfle vorgeladen. Ich sollte auch im Prozeß gegen ihn aussagen. Aber er fand nicht statt: Nach seiner Verlegung nach Wien hat Hermann Höfle in der Untersuchungshaft Selbstmord verübt.

 
Ein Intellektueller, ein Märtyrer, ein Held
     
    Adam Czerniaków fragte die zuständigen SS-Leute, ob es denn nicht möglich sei, den »Umgesiedelten« zu erlauben, Lebenszeichen von sich zu geben, etwa Postkarten zu schicken – damit könne man der Panik im Getto entgegenwirken. Dies wurde von der SS schroff und, wie immer, ohne Begründung abgelehnt. Alle waren entsetzt und hilflos. Denn schon damals, am zweiten Tag der »Umsiedlung«, am 23. Juli, entstand der Verdacht, daß die Deportierten ermordet wurden. Der an der Spitze des Gettos stand, erkannte sofort, was die Deutschen von ihm erwarteten: Er, Adam Czerniaków, sollte der Henker der Warschauerjuden sein.
    Gewiß hat er sich nie träumen lassen, er werde in die Geschichte als ein Mann mit tragischen Zügen eingehen, er werde sogar als Held und Märtyrer gelten. Vom Heroischen wollte Czerniaków, dieser bürgerliche Intellektuelle, nichts wissen, aber so ganz unlieb mag ihm die ungewöhnliche Rolle, die ihm zugefallen war, wohl auch nicht gewesen sein – jedenfalls nicht bis zum 22. Juli. Von Beruf war er Chemiker, er hatte vor dem Ersten Weltkrieg in Polen und in Deutschland (vor allem in Dresden) studiert, auf den Titel eines Diplomingenieurs legte er Wert. Die deutsche Kultur hat, wie aus manchen Gesprächen, die ich mit ihm führte, hervorging, auf seine Persönlichkeit einen nicht unwichtigen, wahrscheinlich einen prägenden Einfluß ausgeübt.
    In den dreißiger Jahren bekleidete Czerniaków in Warschau ein ziemlich hohes Amt in der polnischen Finanzverwaltung. Doch scheint diese Arbeit seinen Ehrgeiz nicht ganz befriedigt zu haben. Denn zugleich gehörte er dem Warschauer Stadtrat an und bald dem Senat der Republik Polen; er wurde auch Vorstandsmitglied der Jüdischen Kultusgemeinde von Warschau – wo er

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