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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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es übrigens gar nicht leicht hatte, denn ihm, der einer assimilierten jüdischen Familie entstammte, verübelten die orthodoxen Juden, daß er des Jiddischen kaum mächtig war.
    Als die Wehrmacht Polen besetzte, flohen die meisten Vorstandsmitglieder der Jüdischen Kultusgemeinde in Richtung Osten. Czerniaków gehörte zu jenen, die auf ihren Posten blieben. Während der Belagerung Warschaus hatte ihn der noch amtierende, der letzte Präsident der polnischen Hauptstadt zum einstweiligen Vorsitzenden der Gemeinde ernannt. Als die Deutschen kamen und ihm befahlen, einen aus 24 Personen bestehenden Jüdischen Ältestenrat zu bilden, empfand er die Aufgabe als eine historische Mission. Bei verschiedenen Gelegenheiten hat er daran erinnert, daß er keineswegs von den deutschen Okkupanten für dieses Amt auserwählt worden sei, sondern noch von den Polen.
    So war Adam Czerniaków zum Oberhaupt der größten Ansammlung von Juden in Europa und (nach New York) der zweitgrößten auf der Welt geworden, zum faktischen Oberbürgermeister einer riesigen jüdischen Stadt. Er leitete deren Selbstverwaltung, die das Erbe der Kultusgemeinde übernommen hatte – und übernahm auch noch die Pflichten des polnischen Magistrats, der für das Getto nicht zuständig war. Zur Kompetenz des »Judenrates« gehörten die üblichen städtischen oder staatlichen Einrichtungen, also Krankenhäuser, Badeanstalten, Postämter, die Wohnungszuteilung, die Lebensmittelversorgung, der städtische Verkehr und die Friedhofsverwaltung, unterschiedliche soziale Institutionen und schließlich eine eigene Miliz. Aber es gab ja noch eine andere Zuständigkeit des »Judenrates«: Er hatte die Juden den deutschen Behörden gegenüber in ausnahmslos allen Angelegenheiten zu vertreten.
    Daß Czerniaków einer solchen doppelten Funktion nicht gewachsen war, ist sicher. Ebenso sicher ist, daß man sich beim besten Willen den Menschen nicht vorstellen kann, der imstande gewesen wäre, diese, wie sich bald herausstellte, unheimliche Aufgabe zu bewältigen. Er war im Getto nur von wenigen geachtet, von vielen wurde seine Tätigkeit mißbilligt; er wurde sogar verabscheut und gehaßt. Denn man machte ihn für die barbarischen Maßnahmen der Deutschen mitverantwortlich, zumal kaum jemand wußte, daß er sich nahezu täglich bemühte, das Elend der Bevölkerung zu mildern – was in den meisten, doch nicht in allen Fällen vergeblich war.
    Obwohl er mehrmals verhaftet und oft von seinen deutschen Gesprächspartnern gedemütigt, geschlagen und auch regelrecht gefoltert wurde, kapitulierte Czerniaków nicht: Immer wieder versuchte er, bei den von ihm unermüdlich aufgesuchten Behörden wenigstens kleine Vergünstigungen und Zugeständnisse zu erwirken. Als eine italienische Institution ihm und seiner Frau die Flucht aus dem besetzten Polen ermöglichen wollte, lehnte er ab, wieder hielt er es für seine Pflicht, auf seinem Posten auszuharren. Erst als sein Tagebuch veröffentlicht wurde (1968 die hebräische Übersetzung, 1972 der polnische Originaltext), ließen sich die Leiden und Leistungen dieses Obmanns des »Judenrates« ermessen.
    Empört war man, daß es in seiner Umgebung einige höchst zwielichtige Figuren gab, die als Gestapo-Agenten galten. Das war zunächst einmal nur ein Verdacht, doch erwies er sich als berechtigt – und so wurden diese Leute später, nach Czerniakóws Tod, von der Jüdischen Kampforganisation zum Tode verurteilt und hingerichtet. Aber es handelte sich bei diesen unzweifelhaften Agenten um jüdische Verbindungsleute zur Sicherheitspolizei und zu anderen deutschen Dienststellen, die nur mit ihnen reden wollten: Die Deutschen waren es, die Czerniaków zwangen, mit solchen Individuen zusammenzuarbeiten – was man freilich im Getto nicht wissen konnte.
    Jene hatten wohl recht, die ihn für einen schlechten Organisator hielten und auch für einen ziemlich willenlosen und vielleicht auch eitlen Mann. Seine etwas ärgerliche Schwäche für Repräsentation mußte im Getto besonders auffallen. Er liebte pathetische Ansprachen, feierliche Eröffnungen und allerlei festliche Veranstaltungen. Als einige Wochen zuvor ein Kinderspielplatz eröffnet wurde, demonstrierte Czerniaków eine im Getto unbekannte Eleganz: Er trug einen strahlend weißen Anzug, einen Strohhut und weiße Handschuhe und blickte sichtlich zufrieden auf sein kinderfreundliches Werk.
    Gern sah sich Czerniaków in der Rolle eines großzügigen Förderers der Kunst. Man machte sich

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