Mein Leben
es, eine weitere Frage zu stellen. Czerniaków saß ruhig und beherrscht, er schwieg.
Wenige Augenblicke später verließen die SS-Führer mit ihren Begleitern das Haus. Kaum waren sie verschwunden, da verwandelte sich die tödliche Stille nahezu blitzartig in Lärm und Tumult: Noch kannten die vielen Angestellten des »Judenrates« und die zahlreichen wartenden Bittsteller die neuen Anordnungen nicht. Doch schien es, als wüßten oder spürten sie schon, was sich eben ereignet hatte – daß über die größte jüdische Stadt Europas das Urteil gefällt worden war, das Todesurteil.
Ich begab mich schleunigst in mein Büro, denn ein Teil der von Höfle diktierten »Eröffnungen und Auflagen« sollte innerhalb von wenigen Stunden im ganzen Getto plakatiert werden. Ich mußte mich sofort um die polnische Übersetzung kümmern. Langsam diktierte ich den deutschen Text, den meine Mitarbeiterin Gustawa Jarecka sofort polnisch in die Maschine schrieb.
Habe ich sie, die polnische Schriftstellerin Gustawa Jarecka, geliebt? Ja, aber es war eine ganz andere Beziehung als die zu Tosia. Über die Vergangenheit von Gustawa weiß ich nicht viel. Vor dem Krieg hatte sie mit der jüdischen Welt wenig gemein. Sie gehörte zu jenen polnischen Juden, denen die Religion ganz und gar fremd war. Ins Getto kam sie mit ihren zwei Kindern: einem elf oder zwölf Jahre alten Jungen, der aus einer frühen und rasch wieder aufgelösten Ehe hervorgegangen war, und einem zwei, höchstens drei Jahre alten Sohn, über dessen Vater sie sich nie geäußert hat. Czerniaków (und das muß man ihm hoch anrechnen) hat jene vielen Intellektuellen, die im Getto arbeitslos waren, großzügig gefördert – das bedeutete in den meisten Fällen, daß er sie in einem der Ämter des »Judenrates« beschäftigen ließ. Da Gustawa Maschineschreiben und Deutsch konnte, wurde sie meinem Büro zugewiesen.
Ich sehe sie vor mir: eine braunhaange und blauäugige schlanke Frau, Anfang dreißig, beherrscht und ruhig. Sie war eine nicht unbekannte, wenn auch nicht berühmte Schriftstellerin, sehr jung, als ihr erstes Buch erschien. Ihm folgten bis zum Kriegsausbruch noch drei weitere Bücher – realistische, sozialkritische Romane, die, zumindest teilweise, im proletarischen Milieu spielten und linke Anschauungen erkennen ließen. Sie haben mich, als ich sie nach 1945 lesen konnte, gewiß interessiert, doch nicht gerade begeistert. Aber sie, Gustawa Jarecka, hat mich beinahe vom ersten Augenblick an tief beeindruckt. Was uns verband, war, wieder einmal, die Literatur – nicht die deutsche, über die sie nur schwach informiert war, und auch nicht die polnische, die ich nur wenig kannte. Wir sprachen vor allem über Franzosen und Russen, über Flaubert und Proust, über Tolstoj. Ich verdanke diesen Gesprächen viel.
Eines Tages zeigte ich ihr drei oder vier Aufsätze, die aus meinen letzten Schuljahren stammten und von denen ich noch in Berlin, natürlich aus purer Selbstgefälligkeit, schöne Maschinenabschriften verfertigt hatte. Sie war von diesen Arbeiten sehr angetan, vermutlich in viel höherem Maße, als sie es verdienten. Sie fragte mich, ob ich Saint-Exuperys »Nachtflug« gelesen hätte. Da ich das kleine Buch nicht kannte, hat sie es, ohne daß ich sie darum gebeten hätte, ins Polnische übersetzt. Ein Jahr nach Kästners »Lyrischer Hausapotheke« war dies abermals ein ungewöhnliches literarisches Geburtstagsgeschenk. Spätestens damals hätte ich begreifen sollen, daß ihr Interesse an mir noch stärker war als das meinige an ihr.
Was hat mich zu ihr in einer Zeit hingezogen, die doch ganz – so schien es mir jedenfalls – im Zeichen meiner Freundschaft, meiner Beziehung mit Tosia stand? Ich wußte es nicht, aber ich glaube es heute zu wissen. Als Tosia und ich uns in jener Zeit den Spaß gönnten, uns vorzustellen, daß wir, so unwahrscheinlich es auch war, den Krieg überleben sollten, als wir uns über eine gemeinsame Zukunft unterhielten, da erzählte ich ihr die Handlung der »Meistersinger« und zitierte den Ausspruch, mit dem Hans Sachs auf die halb ernste, halb scherzhafte Werbung der Eva reagiert: »Da hätt’ ich ein Kind und auch ein Weib.«
Gustawa empfand ich als eine Kontrastfigur: Sie war nicht nur älter als Tosia, sie war auch reifer und selbständiger. Unbewußt fand ich bei ihr jenen Beistand, den meine Mutter mir nicht mehr bieten konnte – und Tosia noch nicht. Fast will es mir scheinen, als habe mich Gustawa geliebt.
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