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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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noch heiß begehrt, erwiesen sich als unnütze Zettel.
    Auch das Dokument, das bestätigte, daß Tosia meine Frau sei und somit der »Umsiedlung« nicht unterliege, war überflüssig geworden, es hatte nicht mehr den geringsten Wert. Dennoch haben wir diese Bescheinigung sorgfältig aufbewahrt, beide haben wir die wahrlich nicht feierliche, die geradezu hastige Eheschließung vom 22. Juli 1942, so gewiß sie zunächst nur von praktischen Überlegungen angeregt war, doch sehr ernst genommen – und wir tun es immer noch.
    In den späteren Nachmittagsstunden des 23. Juli war dank der Letten, Litauer und Ukrainer die Zahl der für diesen Tag vom Stab »Einsatz Reinhard« für den »Umschlagplatz« angeforderten 6000 Juden erreicht. Gleichwohl erschienen kurz nach achtzehn Uhr im Haus des »Judenrates« zwei Offiziere von diesem »Einsatz Reinhard«. Sie wollten Czerniaków sprechen. Er war nicht anwesend, er war schon in seiner Wohnung. Enttäuscht schlugen sie den diensttuenden Angestellten des »Judenrates« mit einer Reitpeitsche, die sie stets zur Hand hatten. Sie brüllten, der Obmann habe sofort zu kommen. Czerniaków war bald zur Stelle; zum ersten Mal kam er zu dem von ihm geleiteten Amt mit einer Rikscha – und auch zum letzten Mal.
    Das Gespräch mit den beiden SS-Offizieren war kurz, es dauerte nur einige Minuten. Sein Inhalt ist einer Notiz zu entnehmen, die auf Czerniakóws Schreibtisch gefunden wurde: Die SS verlangte von ihm, daß die Zahl der zum »Umschlagplatz« zu bringenden Juden für den nächsten Tag auf 10000 erhöht werde – und dann auf 7000 täglich. Es handelte sich hierbei keineswegs um willkürlich genannte Ziffern. Vielmehr hingen sie allem Anschein nach von der Anzahl der jeweils zur Verfügung stehenden Viehwaggons ab; sie sollten unbedingt ganz gefüllt werden.
    Kurz nachdem die beiden SS-Offiziere sein Zimmer verlassen hatten, rief Czerniaków eine Bürodienerin: Er bat sie, ihm ein Glas Wasser zu bringen. Wenig später hörte der Kassierer des »Judenrates«, der sich zufällig in der Nähe von Czerniakóws Amtszimmer aufhielt, daß dort wiederholt das Telefon läutete und niemand den Hörer abnahm. Er öffnete die Tür und sah die Leiche des Obmanns des »Judenrates« in Warschau. Auf seinem Schreibtisch standen: ein leeres Zyankali-Fläschchen und ein halbvolles Glas Wasser.
    Auf dem Tisch fanden sich auch zwei kurze Briefe. Der eine, für Czerniakóws Frau bestimmt, lautet: »Sie verlangen von mir, mit eigenen Händen die Kinder meines Volkes umzubringen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als zu sterben.« Der andere Brief ist an den Judenrat in Warschau gerichtet. In ihm heißt es: »Ich habe beschlossen abzutreten. Betrachtet dies nicht als einen Akt der Feigheit oder eine Flucht. Ich bin machtlos, mir bricht das Herz vor Trauer und Mitleid, länger kann ich das nicht ertragen. Meine Tat wird alle die Wahrheit erkennen lassen und vielleicht auf den rechten Weg des Handelns bringen …«
    Von Czerniakóws Selbstmord erfuhr das Getto am nächsten Tag – schon am frühen Morgen. Alle waren erschüttert, auch seine Kritiker, seine Gegner und Feinde, auch jene, die ihn noch gestern verspottet und verachtet hatten. Man verstand seine Tat, wie sie von ihm gemeint war: als Zeichen, als Signal, daß die Lage der Juden Warschaus hoffnungslos sei. Man verstand sie als verzweifelte Aufforderung zum Handeln. Und manchen, zumal im Kreis meiner Freunde und Kollegen, entging es nicht, daß der Mann, dem man so oft Eitelkeit vorgeworfen hatte, im entscheidenden Augenblick seine Würde zu wahren wußte. Er, der Pathetisches und Theatralisches schätzte, hatte eine klare und lapidare Botschaft hinterlassen.
    Still und schlicht war er abgetreten. Nicht imstande, gegen die Deutschen zu kämpfen, weigerte er sich, ihr Werkzeug zu sein. Er war ein Mann mit Grundsätzen, ein Intellektueller, der an hohe Ideale glaubte. Diesen Grundsätzen und Idealen wollte er auch noch in unmenschlicher Zeit und unter kaum vorstellbaren Umständen treu bleiben. Er hatte gehofft, dies werde, der deutschen Barbarei zum Trotz, vielleicht möglich sein. Er war mit Sicherheit ein Märtyrer. War er auch ein Held? Jedenfalls handelte er, als er sich am 23. Juli 1942 in seinem Amtszimmer entschlossen hatte, dem Leben ein Ende zu setzen, in Übereinstimmung mit seinen Idealen. Kann man von einem Menschen mehr verlangen?
    Als ich vom einsamen Tod Adam Czerniakóws hörte, dachte ich, bestürzt und verwirrt, an die Dichter,

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