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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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hierüber gelegentlich lustig und wollte ihm nicht recht glauben, daß er für sein Arbeitszimmer im Haus des »Judenrates« kunstvolle Fenster nur deshalb anfertigen ließ, um einige im Getto lebende Maler zu unterstützen. Auch wußte man nicht, daß er dem Jüdischen Symphonieorchester im Rahmen seiner bescheidenen Möglichkeiten half.
    Wenn er besonders wichtige Dokumente diktieren wollte oder einen Brief selber deutsch schrieb und Hilfe brauchte, rief er mich zu sich. Der etwa Sechzigjährige machte auf mich den Eindruck eines würdigen Herrn, für mich, damals kaum über zwanzig, war er eine Respektsperson. Oft fragte er mich nach der Situation der Musiker im Getto. Auch an der Literatur war er interessiert, es gefiel mir, daß er, um mir ein wenig zu imponieren, mitunter die polnischen Romantiker zitierte und auch die deutschen Klassiker, Schiller zumal. Es ist mir erst viel später aufgefallen, daß er sich mehr als einmal auf ein Wort aus der »Braut von Messina« berief: »Das Leben ist der Güter höchstes nicht.«
    Eines Tages erfuhren wir, daß Czerniaków vor dem Krieg Gedichte und einige Novellen geschrieben hatte und daß er sie auf eigene Kosten hatte drucken lassen. Eine seiner Mitarbeiterinnen wollte ihm aus irgendeinem Anlaß eine ungewöhnliche Freude bereiten: Sie bestellte bei Tosia eine verzierte und illustrierte, möglichst prachtvolle Abschrift dieser (übrigens nicht eben guten) Gedichte. Angeblich hat ihn dieses Geschenk beglückt. Auch während des Krieges soll er heimlich Verse verfaßt haben.
    Doch nichts schmeichelte seiner Eitelkeit so sehr wie die Tatsache, daß niemand sonst im Getto über ein Auto verfügte: Der schäbige Wagen war das sichtbarste, das effektvollste Zeichen seiner Macht und Würde. Nicht nur für die nahezu täglichen Bittgänge Czerniakóws zu deutschen Ämtern erwies sich dieser Wagen als sehr nützlich. Zweimal war er von verzweifelten Juden angepöbelt und auch bedroht worden. Seitdem hat man ihn auf den Straßen des Gettos nur noch in seinem Auto gesehen. Wenn er es unbedingt verlassen mußte – etwa auf dem Friedhof, wo er nicht selten Ansprachen hielt –, haben ihn mehrere Angehörige der jüdischen Miliz beschützt.
    Was immer Czerniaków vorgeworfen und angelastet wurde – selbst seine Gegner bestritten nicht, daß er, mochte er ein wenig naiv sein, letztlich ein ehrlicher, ein aufrechter, ein integrer Mann war. Während im Herbst 1942 zwei Kommandanten der Miliz auf Grund von Urteilen der Widerstandsorganisation im Getto als Kollaborateure hingerichtet wurden, hat ihn (und auch die 24 Mitglieder des »Judenrates«) niemand der Kollaboration bezichtigt.
    Am 22. Juli habe ich Adam Czerniaków zum letzten Mal gesehen: Ich war in sein Arbeitszimmer gekommen, um ihm den polnischen Text der Bekanntmachung vorzulegen, die im Sinne der deutschen Anordnung die Bevölkerung des Gettos über die vor wenigen Stunden begonnene »Umsiedlung« informieren sollte. Auch jetzt war er ernst und beherrscht wie immer. Nachdem er den Text überflogen hatte, tat er etwas ganz Ungewöhnliches: Er korrigierte die Unterschrift. Wie üblich hatte sie gelautet: »Der Obmann des Judenrates in Warschau – Dipl.Ing. A. Czerniaków«. Er strich sie durch und schrieb statt dessen: »Der Judenrat in Warschau«. Er wollte nicht allein die Verantwortung für das auf dem Plakat übermittelte Todesurteil tragen.
    Schon am ersten Tag der »Umsiedlung« war es für Czerniaków klar, daß er buchstäblich nichts mehr zu sagen hatte. Am nächsten Tag wurde ihm sein Auto weggenommen. In den frühen Nachmittagsstunden sah man, daß die Miliz, so eifrig sie sich darum bemühte, nicht imstande war, die von der SS für diesen Tag geforderte Zahl von Juden zum »Umschlagplatz« zu bringen. Daher drangen ins Getto schwerbewaffnete Kampfgruppen in SS-Uniformen – keine Deutschen, vielmehr Letten, Litauer und Ukrainer. Sie eröffneten sogleich das Feuer aus Maschinengewehren und trieben ausnahmslos alle Bewohner der in der Nähe des »Umschlagplatzes« gelegenen Mietskasernen zusammen. Sofort galten diese Männer in deutschen Uniformen als besonders grausam.
    Daß sie sich um die Dokumente der Juden, die sie zum »Umschlagplatz« trieben, nicht kümmerten, kann niemanden verwundern. Wie sollten sie es tun, da sie offensichtlich kein Wort Deutsch verstanden? So war, was SS-Sturmbannführer Höfle am Vortag angeordnet und mir diktiert hatte, schon null und nichtig: Alle Arbeitsbescheinigungen, eben

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