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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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die er nicht nur liebte und gern zitierte, die er auch ernst nahm. Ich dachte an die großen polnischen Romantiker, an die großen deutschen Klassiker.

 
Eine nagelneue Reitpeitsche
     
    Das Wort »Flitterwochen« kommt, wie uns die Wörterbücher belehren, vom mittelhochdeutschen Verbum »vlittern«, welches soviel bedeutet wie »flüstern«, »kichern« oder »liebkosen«. Wie war es damit bei uns bestellt? Eine Hochzeitsreise haben wir nicht gemacht, sie blieb uns, Tosia und mir, erspart – sie hätte ja nur ein einziges Ziel haben können: die Gaskammer. Aber »Flitterwochen« – das ist ja ein zeitlicher Begriff, also muß es diese Wochen gegeben haben. In der Tat, es hat sie gegeben, nur gehören sie zu den schlimmsten, den schrecklichsten unseres Lebens.
    Die in den Vormittagsstunden des 22. Juli 1942 begonnene und bis Mitte September dieses Jahres dauernde Ermordung der überwiegenden Mehrheit der Warschauer Juden wird in den historischen Darstellungen mit den damals üblichen Worten benannt. Es sind Vokabeln, die den Tatbestand verschleiern. So spricht man von der »Großen Aktion« oder auch von der »Ersten Aktion« oder gar, die behördliche deutsche Nomenklatur übernehmend, von der »Umsiedlungsaktion«. Indes: Die Juden wurden deportiert und also ausgesiedelt. Aber umgesiedelt? Wenn ja – wohin?
    Täglich wurden Tausende auf Viehwaggons verladen, im Durchschnitt etwa sechs- bis siebentausend. Die höchste Zahl der an einem Tag Abtransportierten betrug den amtlichen deutschen Angaben zufolge 13 596 Personen. Die ersten Opfer waren jene, die der Gesellschaft, vor allem der sozialen Wohlfahrt, zur Last fielen. Es waren die Elendsten der Elenden: Die Gettomiliz hatte den Auftrag, die Obdachlosenasyle, die Waisenheime, die Haftanstalten und andere Unterkünfte für die Ärmsten zu leeren.
    Die meisten alten und kranken Menschen wurden nicht in die Züge, sondern zum jüdischen Friedhof gebracht und dort sofort erschossen. Daß man die Arbeitsunfähigen an Ort und Stelle hinrichtete, dahinter könne sich für die Nichtbetroffenen – dies glaubten, wie unwahrscheinlich es auch sein mag, manche Gettobewohner – doch etwas Positives verbergen: Die »Umsiedlung« müsse, meinten sie, nicht unbedingt und nicht in allen Fällen den Tod bedeuten, vielmehr deportiere man die Juden, weil man sie irgendwo und zu irgendwelchen Arbeiten brauche. Die Deutschen, hörte man, planten im Osten eine gewaltige Verteidigungslinie, vergleichbar mit der Siegfriedlinie im Westen. Vielleicht benötige man hierzu, hieß es, Hunderttausende von Arbeitern.
    Letztlich vermochten derartige Gerüchte und Spekulationen niemanden zu beruhigen. Man begriff: Wer Menschen wahllos aufgreift und auf so barbarische, so wahrlich unmenschliche Weise in Viehwaggons pfercht (auch Frauen und Kinder), kann nicht die Absicht haben, sie für sich arbeiten zu lassen. Sehr bald wurden alle, ob arbeitsfähig oder nicht, auf den Straßen verhaftet und zum »Umschlagplatz« abgeführt. Sofort waren die Straßen menschenleer. Wer sich in den Wohnhäusern aufhielt, wurde aufgerufen, gleich in den Hof zu kommen, und wer dieser Aufforderung nicht folgte, wurde erschossen. Dennoch haben viele vorgezogen, sich in Kellern, auf den Dachböden oder sonstwo zu verstecken und eher die Erschießung an Ort und Stelle zu riskieren, als sich zum »Umschlagplatz« bringen zu lassen.
    Dabei mußten die jüdischen Milizionäre helfen: Die SS hatte ihnen versprochen, sie würden mit ihren Familien im Getto, also am Leben bleiben dürfen. Trotz ihrer Todesangst waren nicht alle Milizionäre bereit zu tun, was ihnen die Deutschen befohlen hatten. Manche, die sich weigerten, wurden sofort hingerichtet, manche verübten Selbstmord. Aber die meisten haben in diesen Tagen und Wochen eine unrühmliche Rolle gespielt. Daß die SS nicht Wort gehalten hat, versteht sich von selbst: Am Ende der »Ersten Aktion« wurden beinahe alle Angehörigen der Jüdischen Miliz von den wenigen ihresgleichen, die noch bleiben durften, zum »Umschlagplatz« gebracht und deportiert.
    Die Frage, wohin die Transporte gingen, ließ sich schon Anfang August beantworten. Die jüdischen Wachtposten auf dem »Umschlagplatz« hatten die Nummern der Waggons notiert und mußten zu ihrer Verblüffung feststellen, daß die Züge keinen weiten Weg zurücklegten, daß sie keineswegs nach Minsk oder Smolensk gingen. Denn die Waggons waren schon nach wenigen Stunden, höchstens vier oder fünf, wieder in

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