Mein Mann der Moerder
arbeiteten. Schulkinder gingen in Gruppen oder zu zweit auf dem Bürgersteig. Ob sie von ihren Eltern und Lehrern dazu angehalten worden waren, nicht mehr allein zur Schule zu gehen, nach dem, was mit Antonia geschehen war?
Ich fuhr die Hauptstraße entlang bis ins Zentrum. Harre war keine große Stadt, hatte vielleicht fünfzehntausend Einwohner. An der Bahnhofsstraße reihte sich graue Fassade an graue Fassade. Viele Einfamilienhäuser trugen noch das Kleid der DDR, diesen schmutzigen Putz, der jeden Straßenzug trostlos aussehen ließ. Doch in den liebevoll gepflegten Vorgärten blühte es. Hier und da waren neue Fenster eingesetzt oder die Dächer gedeckt worden, mit teuren, glasierten Pfannen, die in der Sonne glänzten und auf denen kein Moos mehr wuchs. In Harre wohnten Leute, die für ihr Geld schufteten, sich abrackerten für ein kleines bisschen Wohlstand. Leute, die Tobias, auch wenn er es nie laut gesagt hätte, insgeheim verachtete, weil er auf ihr vermeintlich piefiges Leben herabsah. Wahrscheinlich hatte er sich deshalb das Recht genommen, in ihre Welt einzubrechen, ihr Vertrauen zu erschüttern, ihnen wehzutun.
Mich dagegen erfüllte diese kleinbürgerliche Idylle mit Wehmut, weil ich gerne so ein Elternhaus gehabt hätte. Gegen unsere kleine, unordentliche Etagenwohnung, die nur deshalb nicht völlig versiffte, weil Frau Wilhelms jedes Mal Klarschiff machte, wenn meine Mutter in der Psychiatrie war, wäre so ein Elternhaus ein Paradies gewesen. Wahrscheinlich war es auch diese Sehnsucht nach einem bürgerlichen Leben gewesen, die mich dazu getrieben hatte, Tobias überstürzt zu heiraten. Ich wollte mit ihm die Familie, die ich als Kind schmerzlich vermisst hatte.
Die Sonne hatte sich gegen die Wolken durchgesetzt. Am Stamm einer Kastanie, deren Blätter fleckig-braun waren, hing ein eingeschweißtes Plakat. Wo ist Antonia?, stand in großen Druckbuchstaben unter dem Foto des Mädchens. Ich schluckte, wäre am liebsten umgekehrt, doch eine seltsame Kraft zog mich weiter in den Ort.
Im Zentrum von Harre gab es eine dieser Einkaufsstraßen, wie man sie in fast allen kleineren Orten Deutschlands findet. Einen Bäcker, vor dem ein Auto mit laufendem Motor wartete. Ein Billigtextildiscounter, der für T-Shirts warb, die nur drei Euro kosteten, daneben der Laden einer Drogeriekette. Im Schaufenster eines Blumengeschäfts hing wieder das Plakat mit Antonias Foto. Und auch nebenan im Café, das noch geschlossen war, klebte ihr Bild an der Glastür. Vielleicht diente das Plakat als eine Art Mahnmal, schließlich lag die Tat nun schon einige Wochen zurück.
Ohne recht zu wissen, warum, setzte ich den Blinker und bog rechts ab. Mein Wagen holperte über Kopfsteinpflaster. Im Vorbeifahren fiel mir der Name des Straßenschildes ins Auge: Freiheit. An der Ecke stand ein hässlicher Block mit Fenstern, hinter denen das Leben offenbar erloschen war. Die meisten Wohnungen standen leer. Die kleinen Backsteinhäuschen in der Nachbarschaft trotzten dem Plattenbau, waren liebevoll restauriert, die Fassaden mit Kletterrosen und Wildem Wein veredelt. Die Freiheit mündete in eine weitere gepflasterte Straße. Kleine Inseln, auf denen junge Birken wuchsen, zwangen die Autofahrer zum Schritttempo.
Auch hier standen gepflegte Einfamilienhäuser hinter akkurat gestutzten Hecken. Zweifellos handelte es sich hier um eine der besseren Wohngegenden von Harre.
Am Ende der Straße stand ein zweistöckiger, kastenartiger Backsteinbau mit spitzem Dach und quadratischen Fenstern. Eine Villa aus den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts, als die Architektur den Pomp der Gründerzeit und die Verspieltheit des Jugendstils hinter sich gelassen hatte. Efeu wucherte auf der Wetterseite des Hauses, verbarg die Mauer unter einem dichten Blätterkleid. Im Garten standen Apfelbäume, deren Zweige sich unter der Last reifer Früchte bogen. Ich spürte, wie meine Hände schweißnass wurden und über den Lederüberzug des Steuers rutschten. Ich hatte dieses Haus schon einmal gesehen. Auf einem Foto in der Zeitung. Das war Antonias Elternhaus.
Ich trat aufs Gaspedal, fuhr am Haus vorbei, folgte der Straße. Dann bog ich wieder in eine Allee ein, von der ich glaubte, sie würde mich aus dem Ort leiten. Doch der Weg führte mich über einen großen Bogen zurück nach Harre. Ich war im Kreis gefahren. Plötzlich tauchte ein Schild vor mir auf: Schulstraße. Ohne zu überlegen, bog ich in die Straße ein, fuhr vorbei an dem
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