Mein Mutiger Engel
hinüber.
Katherine warf John einen unsicheren Blick zu. "Ich werde sie im Auge behalten", versprach er. Nachdem auch er den Tisch verlassen hatte, stützte Katherine ihr Kinn auf die Hände und gab sich ungestört ihren Gedanken hin.
Vergangene Nacht hatte sie in den Armen eines Mannes geschlafen, den sie kaum kannte, mit dem sie kurzerhand eine reine Zweckehe eingegangen war. Sie verdiente es nicht, respektvoll und rücksichtsvoll von ihm behandelt zu werden, doch genau das hatte er getan. Trotz ihrer Unerfahrenheit in Bezug auf Liebe ahnte sie, wie viel Selbstbeherrschung es ihn gekostet haben musste, sie in seinen Armen zu halten, ohne Zärtlichkeiten mit ihr auszutauschen. Wenn sie ihm doch mit irgendeiner guten Nachricht Mut machen könnte! Ihm Hoffnungen zu machen wagte sie noch nicht – das wäre allzu grausam.
In seiner klammen Zelle sann Nick über die arglose Frau nach, die er vergangene Nacht in seinen Armen gewiegt hatte. Nein, verbesserte er sich, gar so arglos auch wieder nicht. Sie wusste genau, was von ihr erwartet wurde, und sie war bereit, ihre Pflicht zu erfüllen. Ihr Ehrgefühl ließ ihr keine andere Wahl. Dasselbe Ehrgefühl, von dem wir Männer immer glauben, dass wir es für uns gepachtet hätten, dachte Nick.
Es musste sie große Überwindung gekostet haben, schließlich hatte er bei ihrer ersten Begegnung wie ein schmutziger, gefährlicher, verzweifelter Sträfling ausgesehen. Was sie in diesem Augenblick wohl tat? Mit einem tiefen Seufzer rief er sich ihre Stimme in Erinnerung, ihre unschuldigen Lippen, die ihn so großzügig geküsst hatten. Kat. Kat, komm nicht wieder. Ich bitte dich.
Am darauf folgenden Morgen stand Katherine beizeiten auf, zog ihr bestes Tageskleid an und trug Jenny auf, die Adresse von Mr. Highson in Erfahrung zu bringen – so hieß der Friedensrichter, der Opfer eines Überfalls geworden war. Am Vorabend hatte Jenny die Gäste im Schankraum ohne Schwierigkeiten dazu ermutigen können, die Geschichte vom Wegelagerer und dem Friedensrichter zum Besten zu geben. Allerdings hatte John sie am Ende vor den übereifrigen Annäherungsversuchen ihrer neuen Freunde retten müssen …
Während Katherine mit John in einem gemieteten Einspänner nach Box Moor hinausfuhr, war sie froh, den starken, massigen Kutscher neben sich zu wissen. Sie ahnte nicht, dass er sich vorsichtshalber zwei geladene Pistolen in den Gürtel gesteckt hatte.
Nach einer Weile überquerten sie eine Brücke, hinter der sich Flussauen erstreckten. Box Moor, dachte Katherine. Vielleicht würde Black Jack sie hier überfallen. Das würde ihnen viel Zeit sparen. Doch ihre Fahrt verlief ohne Zwischenfälle, und wenige Minuten später lenkte John den Einspänner in den Hof des "Lamb and Flag".
Es herrschte Stille. Keine Menschenseele zeigte sich. "Hallo!", rief John, woraufhin endlich ein schmuddeliger junger Bursche erschien, der den Einspänner beäugte, als habe er noch nie im Leben ein solches Gefährt gesehen.
"Ja?"
"Wo ist denn der Wirt? Meine Herrin braucht eine Erfrischung."
"Äh … drinnen."
"Nun, dann komm her und halte das Pferd, du Schwachkopf, damit ich der Dame beim Aussteigen helfen kann."
Nachdem Katherine aus der Kutsche geklettert war, ließ sie den Blick über ihre Umgebung schweifen. Eigentlich machte dieser Ort einen durchaus harmlosen Eindruck. Sie raffte die Röcke und schritt über den Hof, wobei sie die tiefsten Pfützen umging, dann trat sie durch eine Hintertür ins Haus.
In irgendeinem Zimmer sang jemand ein Lied, ohne die richtigen Töne zu treffen, doch es handelte sich um einen Mann, und Katherine suchte das Schankmädchen. Das Klappern, das aus dem vorderen Teil des Wirtshauses ertönte, klang vielversprechender. Indem sie dem Geräusch folgte, gelangte sie in den Schankraum, wo eine junge Frau gerade damit beschäftigt war, hinter dem Tresen Trinkkrüge in einer Reihe aufzustellen. Sie trug ein schlichtes Kleid, aus dessen tiefem Ausschnitt der Rand ihres Hemds hervorsah, und hatte ihre Röcke hochgebunden, damit sie nicht den frisch gescheuerten Fußboden streiften.
Als sie Katherine herannahen hörte, fuhr sie herum. Eine Sekunde lang flackerten Argwohn und Furcht in ihren Augen auf. "Ja, Maam?"
"Ich hätte gerne ein Glas von eurem besten Ale", sagte Katherine freundlich.
"Ja, Maam", wiederholte die Frau und ging mit einem Krug zu einem der großen Fässer hinter dem Tresen hinüber.
Katherine wartete an einem Tisch am anderen Ende des Schankraums, bis das
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