Mein mutiges Herz
Rudy gehängt war, konnte er weitermachen. Bislang war nicht der geringste Verdacht auf ihn selbst gefallen, und so würde es auch bleiben.
Die Eingangstür schwang auf, und Lindsey erschien, eilte zur Kutsche, stieg ein und schloss den Wagenschlag. Rudy Grahams Zeit war bald abgelaufen. Er würde zum Tode verurteilt und gehängt werden. Stephen nahm sich vor, Geduld zu haben, bis der Fall abgeschlossen war.
Als die Kutsche anfuhr, wurde sein Wunsch schier übermächtig, zu beobachten, wie das Leben aus dem besudelten Körper der Hure wich. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren, die Finger seiner behandschuhten Hand krümmten sich zur Faust.
Er begann, die dunkle Straße entlangzugehen. Das Cape seines weiten Mantels blähte sich im kalten Novemberwind, während er der Kutsche bis zu Lindseys Haus folgte. Früher oder später würde die Gelegenheit kommen, wo sie allein und ungeschützt war.
Dann würde er die Entscheidung treffen.
Seine Handflächen prickelten. Die Entscheidung würde ihm nicht schwerfallen.
Wieder neigte sich ein Tag dem Ende entgegen. Lindsey verließ das Büro und fuhr nach Hause. Thor arbeitete an den Docks, sie hatte ihn seit dem Morgen, als sie ihn beim Mietstall aufgesucht hatte, nicht mehr gesehen, aber jede Nacht von ihm geträumt. Lüsterne Träume, in denen er ihre Brüste liebkoste, sie auf die Matratze drückte und sie leidenschaftlich nahm.
Auf dem Weg in den Salon fächelte sie sich mit der Hand Luft zu, um ihre erhitzten Wangen zu kühlen. Gütiger Himmel, der Mann schaffte es, sie vor Lust nach ihm um den Verstand zu bringen, selbst wenn er nicht in ihrer Nähe war.
Tief atmete sie durch und straffte die Schultern. Ihre Eltern hielten sich im Salon auf; sie musste mit ihnen reden, ihnen ihren Entschluss mitteilen, einen Mann zu heiraten, der nicht auf ihrer Liste stand. Sie wünschte, damit warten zu können. Ihre Mutter war krank vor Sorge um Rudy, und ihr Vater wanderte ständig in ohnmächtigem Zorn auf und ab, nichts unternehmen zu können, um seinen Sohn von dem schmählichen Verdacht reinzuwaschen, ein Mörder zu sein. Lindsey wollte ihren Eltern nicht noch mehr Sorgen bereiten, wusste aber, dass Thor nicht bereit war, länger zu warten.
Er war fest entschlossen, sie zu heiraten. Da sie Samirs Trank nicht mehr einnahm, musste sie damit rechnen, Thors Kind bereits empfangen zu haben. Der Gedanke sollte sie ängstigen, erfüllte sie jedoch mit einem beseligenden Glücksgefühl. Sie sehnte sich danach, ein Kind von Thor zu bekommen. Er war zwar ein ungewöhnlich großer Mann, und ihr stand vermutlich eine schwierige Geburt bevor, aber es gab andere große Männer in der Familie, deren Ehefrauen die Geburt schadlos überstanden hatten.
Natürlich würde die Hochzeit nicht stattfinden, solange Rudy unter Mordverdacht stand, aber sie durfte nicht länger warten, ihre Eltern von ihrem Entschluss in Kenntnis zu setzen. Falls nötig, würde sie Thor auch ohne die Zustimmung ihrer Eltern heiraten, hoffte aber, dass sie ihre Entscheidung über kurz oder lang billigten.
Lindsey wappnete sich für die Unterredung und betrat den Salon. Ihre Mutter saß in einem roséfarbenen Nachmittagskleid auf dem Brokatsofa, ihr Vater hatte es sich in einem Sessel bequem gemacht. Auf dem Schoß der Lady lag ein Stickrahmen, aber die Nadel in ihrer Hand bewegte sich nicht. Ihr Vater versuchte zu lesen, starrte allerdings ins Kaminfeuer und nicht auf die Buchseiten.
Lindsey teilte die Besorgnis ihrer Eltern, aber die Sache duldete keinen Aufschub.
Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Guten Abend, Vater, Mutter. Freut mich, euch beide anzutreffen.“
Der Baron legte das Buch auf den Beistelltisch neben die Lampe. „Du wünschst uns zu sprechen?“
„Ja, Papa.“
Er lächelte erfreut. „Über deinen Entschluss zu heiraten?“
Sie nickte. „Ich weiß, der Zeitpunkt ist schlecht gewählt. Und die Hochzeit wird natürlich erst stattfinden, wenn Rudys … Situation geklärt ist. Dennoch will ich euch meine Entscheidung wissen lassen.“
Ein Hauch Farbe überzog die bleichen Wangen ihrer Mutter. „Eine gute Nachricht ist uns im Augenblick sehr willkommen.“ Sie lächelte dünn. „Ich schätze, deine Wahl trifft den gut aussehenden Lieutenant Harvey, nicht wahr?“
Lindsey biss sich auf die Unterlippe. „Eigentlich nicht. Ich meine, Michael wäre meine Wahl gewesen, gäbe es da nicht ein Problem.“
„Was denn für ein Problem?“
Tapfer hob Lindsey das Kinn. „Ich liebe Michael
Weitere Kostenlose Bücher