Mein Name war Judas
die ersten Worte des geforderten Gebets: »Herr, nimm aus diesen unschuldigen Händen das bescheidene Opfer deines Geschöpfes und Dieners an –« Dann brach er ab und nahm langsam die Hände auseinander, immer weiter, als vollführe er ein magisches Ritual. Die Taube fiel zu Boden, erholte sich schnell und flog mit lautem Flügelschlag, der wie Applaus klang, über den Leviten, der sich erschrocken duckte. Auf einer Deckenstrebe hoch über uns ließ sie sich nieder. Wir sahen alle hinauf. Die Taube sah auf uns herab, flog wieder los, dem weiten Tor entgegen und in den hellen Sonnenschein hinaus, der den gigantischen Innenhof des Tempels durchflutete.
Niemand sagte etwas. Mir gefiel das Ganze – vielleicht sogar uns allen. Alle drei sahen wir Jesus an. »Jahwe hat es mir befohlen«, sagte er sehr leise.
»Jahwe?«, fragte der Levite. »Meinst du wirklich, Jahwe nähme von dir Notiz, Junge?«
Ich fragte mich damals, wozu wir denn das Jungenopfer darbringen sollten, wenn Er gar nichts davon mitbekam. Jesus antwortete nicht.
»Was hat Er dir befohlen?«, hakte der Levite nach.
»Er sagte: ›Lass meine Taube fliegen!‹«
Der Levite starrte den Zehnjährigen an. Ich hatte den Eindruck, dass er sich heimlich amüsierte, obwohl er ja eigentlich erbost sein sollte. Dann schickte er uns mit einer Handbewegung fort. »Macht, dass ihr wegkommt«, sagte er. »Andere Jungen wollen auch noch an die Reihe kommen.«
Mein Vater sagte nichts. Wenn ich es richtig sah, lächelte er.
An diesem Nachmittag brachte mein Vater mich zu meinem Onkel, dem Priester, der in der Nähe des Tempels wohnte, und Jesus blieb sich selbst überlassen. Es war der Onkel, der, wie ich meinen Vater einmal hatte klagen hören, nicht zu meiner Beschneidung gekommen war, weil er »dringende Geschäfte« zu erledigen hatte. Zu der Zeit muss er Mitglied des Hohen Rates der Juden gewesen sein, des Sanhedrin, und als solcher vielbeschäftigt, deswegen glaube ich, dass mein Vater die Absage zu Unrecht als beleidigend empfand.
Wir trafen uns an diesem Nachmittag in einem großen Raum mit roten Wänden, weißen Säulen und einer hohen, reich verzierten Decke. Ein riesiger Teppich mit roten und schwarzen Ornamenten bedeckte den größten Teil des Fußbodens. Elegante Liegesofas, geschnitzte Zedernschachteln, niedrige Marmortische, Steinkrüge und Keramikfiguren standen überall herum.
Ich fand, dass mein Onkel eher einem römischen Offizier als einem jüdischen Priester glich. Er war hochtrabend und schien sich furchtbar wichtig zu nehmen. Je mehr mein Vater von mir erzählte und meine eher bescheidenen Vorzüge ins Unendliche übertrieb, desto weniger schien sich mein Onkel für mich zu interessieren. Ich lächelte höflich und sprach nur, wenn ich dazu aufgefordert wurde, wobei ich darauf achtete, meine »bäuerlichen Konsonanten« zu kaschieren. In Anwesenheit seines pompösen Bruders schien mein Vater förmlich zu schrumpfen. Er tat mir richtig leid, und ich beschloss, meinen Onkel nicht zu mögen und ihn niemals um einen Gefallen oder eine Vergünstigung zu bitten.
Aber noch etwas anderes bewegte mich. Sosehr ich meinen Onkel verabscheute, sosehr gefiel mir die stilvolle Umgebung, die stille Schönheit und Eleganz seines Hauses. Damals hielt ich all das für römisch, aber heute weiß ich – ich lebe unter Griechen –, dass es eher hellenistisch war. Ohne es mir bewusst zu machen, dachte ich daran, wie wunderbar es sein müsste, so zu leben, umgeben von so viel Schönheit.
Als wir zu den Tempelstufen zurückkehrten, wo wir mit Jesus verabredet waren, war er nicht dort. Wir suchten ihn und fanden ihn schließlich im Tempel, wo er sich mit einem jungen Leviten unterhielt, der ebenfalls während des Jungenopfers zum Tempeldienst eingeteilt war. Der Levite lächelte uns an und beglückwünschte meinen Vater zu seinem klugen Sohn, der die hebräischen Texte aus den Heiligen Schriften wie ein Tempelpriester rezitieren könne.
»Wäre er mein Sohn«, erwiderte mein Vater, »hätte ich ihn gelehrt, zur verabredeten Zeit am verabredeten Ort zu sein.«
Mein Glaube in jenen Tagen war derselbe wie der meines Vaters und galt dem Gott Israels und dem Wort Seiner Propheten, wie es in den Heiligen Schriften niedergelegt ist. Ich habe von der Gottesfurcht meiner Kindheit gesprochen und will nun hinzufügen, dass sie mit dem Älterwerden verblasste. Ich denke, jeder von uns, der es unbedingt braucht, hat einen Gott individueller Prägung. Meiner hatte mehr
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