Mein Name war Judas
Freunde, ist das weiße Licht der Ewigkeit. Das heilige Feuer. Meine Brüder …«, hier machte er eine wirkungsvolle Pause und sprach anschließend so leise weiter, dass ich ihn kaum noch hören konnte, »geliebte Brüder, es ist der Herr .«
Ich lachte schon eine Weile nicht mehr, und er auch nicht. Ich war den Tränen nahe und wusste nicht, was ich sagen sollte. Seine Rede war nicht nur nicht komisch gewesen, sie hatte es gar nicht sein sollen.
»Amen«, sagte ich schließlich. Dann gingen wir schweigend nach Hause.
Am Anfang war
das Wort, der
Satz, der Text,
der aus der
Taube ein Sinnbild
der Seele machte
und den Stein,
den er hielt,
göttlich leuchten ließ.
Er bekehrte sich
als Erster zu sich selbst
und sah sich
brennen, umschlossen
von der weißen Glut
von Nomen und Verb.
Kapitel 5
Meine Söhne sind Handwerker, aber auch Geschäftsleute. Und Griechen. Ihre Mutter war Griechin, wir leben in einer griechischen Gemeinde und sprechen sowohl zu Hause als auch sonst Griechisch. Ich beherrsche es fließend, denke und träume auf Griechisch, wenn auch mit aramäischem Akzent. Auch das Hebräisch, das ich bei Andreas gelernt habe, und die langen religiösen Texte, die ich als Kind auswendig lernte, sind nicht vergessen, und nachts, wenn Erinnerungen, Ängste und unwillkommene Fantasien mich wach halten, rezitiere ich sie oft leise, bis sie den Platz der verstörenden Gedanken einnehmen und mir einschlafen helfen.
Im Laufe der letzten vierzig Jahre habe ich fast vergessen, dass ich eigentlich Jude bin. Ich habe nicht nur den Glauben meiner Väter abgelegt, sondern auch den einfachen Lebensstil meiner Kindheit. Deswegen bin ich nach Sidon umgesiedelt. Ich wollte den Schmerz überwinden, den der Tod meiner ersten Frau und unseres ungeborenen Kindes mir bereitete. Und die Phase meines Lebens, in der ich Jesus folgte. Zudem wollte ich auch meinem Volk den Rücken kehren, weil es mich als Verräter brandmarkte. So wurde aus Judas Iskariot, dem Manne, der Jesus verraten hat, Idas von Sidon, der treu sorgende Familienvater.
Nun, da ich siebzig bin und weiß, dass mir der Tod näher rückt, beschäftigt mich die Vergangenheit jedoch in zunehmendem Maße, und manchmal überkommt mich eine merkwürdige Wehmut. Ich wünschte, ich könnte mit einem Freund über die alten Zeiten sprechen, aber so jemanden gibt es nicht, und so lade ich, seit Thea nicht mehr lebt, durchreisende Anhänger der Jesussekte gern zu mir zum Essen ein. Natürlich sage ich ihnen nicht, wer ich bin – oder besser gesagt einst war, nämlich einer der zwölf Auserwählten des Jesus von Nazareth.
Der Name, den ich annahm, als ich vor langer Zeit hierherkam, lautet Idas, der meiner Söhne (nach dem Willen ihrer Mutter) Autolykus und Antigonus. Beide habe ich ein nützliches Handwerk erlernen lassen; einer wurde Bootsbauer, der andere Mosaikleger. Beide haben es zu wahrer Meisterschaft in ihrem jeweiligen Gewerbe gebracht und erfreuten sich schon bald eines so guten Rufs, dass sie Arbeiter beschäftigen und anderen Unternehmen Kommissionsaufträge erteilen konnten. Statt mit den eigenen Händen zu arbeiten, konnten sie sich darauf konzentrieren, ihre weit verzweigten Geschäfte zu leiten. Beide haben es zu Wohlstand gebracht, genau wie meine Schwiegersöhne, und dafür bin ich dankbar.
Seit einigen Jahren herrscht in unserer Gegend Mangel an guten Handwerkern, vor allem an Mosaiklegern. Deshalb ging Antigonus (»Tig«, wie er in der Familie genannt wird) nach Jerusalem, um sich unter den Hunderten von Handwerkern umzusehen, die nach der Fertigstellung von Herodes’ neuem Palast arbeitslos geworden und gegen gute Bezahlung bereit waren, sich anderswo niederzulassen.
Tig fand die Männer, nach denen er suchte, und zwei von ihnen leben heute bei uns. Allerdings musste er sich länger in Jerusalem aufhalten, als ihm lieb war, denn er wurde in der Stadt eingeschlossen. Bei der Gelegenheit hat er mehr über die dortigen Aufstände erfahren, als hierzulande bekannt war.
Seit Jahren befindet sich die Stadt in Aufruhr, und es herrscht Bürgerkrieg. Die Revolte richtet sich gegen die Römer, während der Bürgerkrieg zwischen reichen und armen Juden ausgetragen wird. Die Reichen üben Wohlverhalten und Zurückhaltung gegenüber den Römern, die Armen verlangen Gerechtigkeit und sogar Unabhängigkeit von Rom. Um die Verhältnisse noch zu komplizieren, sind die Armen in militante Gruppierungen aufgespalten, die sich gegenseitig bekämpfen.
Die
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