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Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. K. Stead
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es vorgeschrieben war, aber in den letzten Jahren habe er Maria nicht mit den vielen Kindern allein lassen wollen, außerdem habe er es sich nicht leisten können, tagelang seiner Arbeit fernzubleiben. Josef und Maria waren hocherfreut, dass ihr Erstgeborener den Tempel sehen, dort beten und das sogenannte Jungenopfer darbringen würde, das damals in unserem Alter üblich war.
    Ich glaube, meinem Vater ging es nicht um die Gottesdienste und Gebete, vielmehr wusste er, dass er einen Ruf zu verlieren hatte, wenn er nicht die Form wahrte, und darüber hinaus galt es, die familiären Kontakte (sofern noch vorhanden) zu pflegen. In diesem Jahr, fand er, sei es überdies Zeit für mich, meinen Onkel, den Priester, kennenzulernen. Jesus nahm er mit, damit ich nicht allein war. So brauchte er sich unterwegs nicht selbst um mich zu kümmern.
    Ich war schon früher in Jerusalem gewesen, konnte mich aber kaum daran erinnern, mir kam die Stadt ganz neu und aufregend vor. Für Jesus, der außer seinen Aufenthalten in Sepphoris und gelegentlich auch Tiberias keine größeren Städte kannte, war es ein noch größeres Abenteuer. Beide staunten wir über die Größe des Tempels, seine immensen Mauern, hohen Säulen, monumentalen Treppen und weiten Innenräume, die Menschenmenge, den Lärm, das Geschrei und Gewühl rund um die Stände der Geldwechsler, das Dröhnen der Trompeten, das Blöken, Quieken und Zwitschern von Opfertieren, den Gestank von tierischen Exkrementen, Rauch, frisch vergossenem Blut und brennendem Fleisch, den Singsang der Betenden, das Echo der Hymnen und Psalmen, die von Leviten gesungen wurden. Je weiter wir in das Gebäude eindrangen, desto düsterer, unheimlicher und ernster wurde die Atmosphäre, regelrecht bedrohlich.
    Die Stände der Geldwechsler befanden sich innerhalb der Tempelmauern im Innenhof. Hier konnten Griechen ihre Drachmen, Römer ihre Denare und Sesterzen und Pilger aus anderen Ländern ihr Geld in unsere Landeswährung umtauschen. Griechisches und römisches Geld wurde überall in der Stadt als Zahlungsmittel angenommen, lediglich die Tempelsteuer musste in der Landeswährung entrichtet werden. Später erfuhr ich, dass bei diesem Geldwechsel enorme Gewinne erzielt wurden und dass die Stände, wie alles andere, das den Tempelgeschäften diente, den priesterlichen Familien gehörten. Es war einer jener Missstände, die Jesus in seinen letzten Jahren, als seine Lehre strenger wurde, scharf anprangerte, aber als Kind betrachtete er das alles mit den gleichen naiven und staunenden Augen wie ich.
    Abgesehen von dem prächtigen Tempel gefiel uns der Basar am besten, auf dem wir uns frei bewegen durften. Wir hatten ein paar Münzen bekommen, die wir ausgeben konnten, danach sollten wir meinen Vater zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort wiedertreffen. Ohne meinen Vater verfolgten wir den Wachwechsel vor der Antoniaburg, wo die römische Garnison stationiert war. Er faszinierte uns so sehr, dass wir mehrmals hingingen, wenn die Soldaten auf dem gepflasterten Platz vor Herodes’ Palast aufmarschierten, salutierten und einander Befehle zubrüllten. Auch der römische Statthalter Ambibulus sollte in diesem Gebäude residieren. Schnell prägten wir uns die Straßenverläufe und die Namen einiger Stadttore ein, etwa das Fischtor, das Schafstor und das Ephraimtor, an dem Verbrecher hingerichtet wurden.
    Als wir das Jungenopfer darbringen sollten, kaufte mein Vater, schimpfend über den horrenden Preis, eine Taube für jeden von uns und führte uns zu der marmornen Bank, wo ein gelangweilt dreinblickender Levite mit einem Messer stand. Offenbar betrachtete er die ihm zugewiesene Arbeit als unter seiner Würde. Ich ging als Erster auf ihn zu und überreichte ihm meine Taube mit dem Gebet, das man uns beigebracht hatte. Im nächsten Moment hatte sie schon keinen Kopf mehr und lag blutend und zuckend auf dem Stein.
    Mein Vater hatte Jesus eine Hand auf die Schulter gelegt und führte ihn ebenfalls zu dem Leviten. Dort blieb er stocksteif stehen, die Taube mit beiden Händen an seine Brust gedrückt, sodass seine Ellenbogen wie Flügel von ihm abstanden, als sei er der Vogel und das Messer, das gerade gewetzt wurde, für seinen Hals bestimmt. Der Levite griff nach der Taube, aber Jesus stand noch so weit von ihm entfernt, dass er den Vogel nicht zu fassen bekam. »Was ist, Junge«, fragte er. »Hast du dein Gebet vergessen?«
    Mein Vater gab Jesus einen sanften Stoß. Jesus öffnete den Mund und sprach

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