Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. K. Stead
Vom Netzwerk:
mit Aberglaube als mit Mystik zu tun. Die Macht, an die ich glaubte, war das Schicksal, das Unvermeidliche, das Kommende – eine Macht, die ich unmöglich steuern oder auch nur beeinflussen konnte. Ich unterwarf mich ihr vollkommen und streifte vor ihr meinen ganzen Stolz ab wie ein frisch gewaschenes Hemd, das man zum Trocknen auf die heißen Ufersteine legt. Ich erkannte diese Macht an, ohne etwas von ihr zu erwarten. Doch falls es auch nur die geringste Möglichkeit gab, durch sie vor Schmerz und Missgeschick bewahrt zu werden sowie meine Liebsten und Nächsten vor Unbill zu schützen, war es opportun, diese Macht anzuerkennen.
    Was Gebete betraf, so verrichtete ich sie, weil es vorgeschrieben war, ohne tieferes Verständnis oder Überzeugung. Für mich selbst erbat ich nie Wohlergehen oder Geschenke. Ich war ein Junge aus wohlhabendem Hause und hatte ein gutes Herz, nur selten hatte ich das Verlangen nach Dingen . Meist betete ich für meine Mutter, die, wie ich wusste, oft unglücklich war. Ich betete darum, dass sie frohen Mutes werden, dass ihr Gutes widerfahren und sie sich mit meinem Vater aussöhnen möge.
    Auch für meinen Vater betete ich, wenn auch nicht so inbrünstig. Ich betete auch für meinen Hund. Ich betete für jenen elenden Wegelagerer am Kreuz, dass ihm die Gnade zuteilwerde, seine Schmerzen nicht zu spüren und möglichst schnell zu sterben.
    Wie Jesus betete und wie er sich Gott vorstellte, wusste ich damals kaum. Ich erinnere mich an einen Besuch in der Synagoge von Sepphoris, wo er ganz blass wurde und in eine Art Starrkrampf fiel. Seine Augen rollten nach hinten, und seine Lider zuckten. Es war wie ein epileptischer Anfall, aber es ging schnell wieder vorbei, und als ich ihn hinterher danach fragte, sagte er, es sei nichts gewesen. »Ich hab nur etwas ausprobiert«, sagte er und warf dabei den Kopf so geziert in den Nacken, dass mir klar war: Er log.
    Einmal habe ich ihn gefragt, wie er Gott sieht. Wir lagen am Hang eines terrassierten Hügels und sahen den Bauern beim Beschneiden der Olivenbäume zu. Er dachte einen Moment darüber nach. Dann sagte er: »Ich kann nicht sagen, dass ich Ihn sehe . Oder höre. Oder anders ausgedrückt: Falls ich Ihn doch sehe und höre, ist Er ein blendendes Licht und ein Rauschen wie ein Wüstensturm. Aber eher ist Er für mich etwas, das in oder mit mir geschieht. Ich werde größer und immer größer, bis ich die Summe aller Dinge und zugleich nichts bin.«
    Er setzte sich auf und warf einen Stein in die staubigen grau-grünen Bäume. »Ein fürchterlicher Zustand.«
    Nur einmal habe ich damals eine Ahnung davon bekommen, wie er sich entwickeln würde. Es war in den Ferien, wir hatten uns unter eine Menge gemischt, die sich am Rande Nazareths versammelt hatte, um einem Wanderprediger zuzuhören. Der Prediger hielt einen Stein in die Höhe und sagte, dieser Stein sei ein Wunder. Er lispelte stark, und es hörte sich an wie: »Diescher Schtein ischt ein Wunder. Er ischt ein heiliger Tekscht. Er ischt die Wahrheit. Er ischt Gott.«
    Wir fanden das sehr komisch, und die Gläubigen jagten uns weg, weil unser Gekicher sie störte.
    Als wir über die Felsen ins Dorf zurückkletterten und unterwegs noch einige Höhlen erkundeten, imitierte mal der eine, mal der andere von uns den Wanderprediger. Ich fand einen guten Stein und hielt eine Rede darüber, dass er der lebendige Gott sei, aber ich war zu albern, und mir fiel nicht viel ein.
    Dann war Jesus an der Reihe. Damals hielt er nicht gerne Reden, schüchtern und voller Selbstzweifel kam er manchmal sogar ins Stottern, und genauso fing auch diese Rede an. Aber je mehr er sich hineinsteigerte, desto mehr schien er davon überzeugt zu sein, der Stein in seiner Hand sei tatsächlich Gott. Er vergaß sogar, sich über den Wanderprediger lustig zu machen und sein Lispeln zu imitieren. Seine Rede wurde immer flüssiger und regelrecht begeisternd. Er zitierte das alte Schrifttum und trug die Texte mit Betonung vor. Seine Augen bekamen einen merkwürdigen Glanz, seine Stirn wurde ganz blass. Er sah hinreißend aus. Die Worte strömten aus seinem Munde wie ein rauschender Gebirgsbach.
    »Siehst du, wie dieser Stein von innen heraus leuchtet?«, fragte er, und einen Moment lang glaubte ich fast, es zu sehen. »Er ist ganz weiß. Farblos. Was keine Farbe hat, ist ein Mysterium der Nicht-Farbigkeit, des Nichts – eines Nichts, das mehr ist als die Materie selbst, mehr als alles Hab und Gut der Menschen. Das , meine

Weitere Kostenlose Bücher