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Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. K. Stead
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fastete. Und wies fortan alles von sich, was auch nur im Entferntesten mit Theater, Poesie, Verkleidung, vorgetäuschtem Leben und Sterben zu tun hatte. Theaterstücke, sagte er, seien Unwahrheiten. Alles, was dort gesprochen werde, sei falsch. Schauspieler und Stückeschreiber seien notorische Vortäuscher. Und Menschen, die sich diese Stücke anschauten und genau wüssten, dass ihnen Unwahrheiten vorgespielt würden, seien Heuchler.
    Wütend und enttäuscht stellte ich ihn zur Rede. Das Theater hatte uns viel Freude gemacht, sowohl beim Schreiben als auch beim Spielen. Mit wem sollte ich diese Leidenschaft nun weiter pflegen?
    Er sagte, ich solle die Finger davon lassen.
    Anfangs fragte ich mich manchmal, ob er nicht vielleicht recht hatte. Hatten wir Gott nicht tatsächlich beleidigt? Würde Er mich strafen, wenn ich weitermachte? Würde mich aus heiterem Himmel ein Blitz treffen? Würde sich der Erdboden vor mir auftun und mich verschlucken?
    Doch dann fielen mir immer wieder Texte ein, kongeniale Mischungen unserer eigenen Worte mit Zitaten aus den Heiligen Schriften, oder ich begleitete Andreas zu weiteren Aufführungen, und immer wieder spürte ich, wie ich von der Sprache des Theaters ergriffen und so beglückt wurde, dass es unmöglich eine Beleidigung von irgendetwas oder irgendwem sein konnte, schon gar nicht einer höheren Macht, die über allem stand.
    Gott hörte auf, eine moralische Instanz für mich zu sein. Er mutierte zu einem unbestimmten, väterlichen Etwas im Himmel, das so duldsam war wie mein leiblicher Vater – und genau wie er nicht aus Liebe, sondern aus Gleichgültigkeit. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Er sich wirklich Zeit für mich nahm oder dafür interessierte, was ich tat, solange ich nicht offen blasphemisch, gewalttätig oder kriminell wurde.
    Also ging ich weiterhin ins Theater, aber ich hatte nun niemanden mehr, mit dem ich Stücke schreiben und sie inszenieren konnte. Ich glaube, zu dieser Zeit begann ich, Gedichte zu schreiben. Diese Gedichte entstanden zunächst nur in meinem Kopf, vor allem wenn ich nachts allein spazieren ging. Sie brannten sich in mein Gedächtnis ein. Einmal, als ich mit Andreas allein war, erzählte ich ihm davon. Er bat mich, ihm eins vorzutragen, dann noch eins und ein drittes … Er ermutigte mich, mit dem Dichten fortzufahren (und küsste mich sogar!), aber ich hatte das Gefühl, dass er Griechisch oder vielleicht sogar Latein für eine angemessenere Sprache der Poesie hielt als Aramäisch.
    Wir unterhielten uns auch über die Abkehr Jesu vom Theater. Andreas war darüber sehr traurig. Er machte sich Sorgen um die Zukunft seines Lieblingsschülers und sagte: »Über Jesus liegt ein Schatten. Wenn es ihm nicht gelingt, dem zu entfliehen, wird sich dieser Schatten wie ein Leichentuch über ihn legen.«
    Eine andere lebhafte Erinnerung aus unserer Jugendzeit ist ebenfalls mit Tiberias verbunden, ich kann allerdings nicht mehr sagen, ob es vor oder nach unseren Differenzen in Sachen Theater war. Wir hatten das Schwefelbad besucht, einen unserer Lieblingsorte, und saßen am Nachmittag vor dem Bad im Freien, um uns von der Anstrengung zu erholen. Wir genossen die frische Brise, die um diese Tageszeit oft von Westen herüberwehte, und warteten auf jemanden, vielleicht Andreas, vielleicht meinen Vater. Das Bad lag in der Nähe eines lehmfarbenen Gebäudes mit weißer Kuppel, in dem durchreisendes einfaches Landvolk einkehren konnte. Der nahe See lag um diese Zeit im Schatten und schimmerte dunkelgrün, während die braunen Hügel an seinem östlichen Ufer im hellen Sonnenschein lagen. Jesus und ich saßen Rücken an Rücken. Ich träumte vor mich hin und sah, wie die Palmzweige im Wind wogten, als winkten sie uns zu. Plötzlich waren Schritte zu hören, die Schritte vieler Männer, die auf dem Lehmboden schnell näher kamen. Als wir Stimmengewirr hörten, richteten wir uns auf und blickten zur Straße.
    Es handelte sich um einen beduinischen Trauerzug, und er führte so nah an uns vorbei, dass wir die erregten Gesichter sahen. Aber auch die Leiche eines jungen Mannes, die auf einem Brett in Schulterhöhe von anderen jungen Männern getragen wurde, die seine Brüder hätten sein können. Die Leiche sah lebendig aus, als sei der junge Mann bei bester Gesundheit. Er war braungebrannt und hatte lange, kräftige Gliedmaßen unter dem Totengewand. Die Menge, die ihn begleitete, bewegte sich schnell, fast im Laufschritt, und erinnerte an das Marschtempo der

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