Mein Name war Judas
rezitierte zwei oder drei, die ich erst kürzlich geschrieben hatte, und er lobte sie, was ich gehofft und gebraucht hatte. Aber er sagte noch mehr beziehungsweise stellte mir eine Frage: »Bist du verliebt, Judas?«
»Verliebt? Nein.« Ich wusste nicht, was er meinte. »Nicht dass ich wüsste.«
Er nickte wissend, sagte aber nichts mehr.
Als er mich zur Tür brachte, fragte er in leicht angesäuertem Ton: »Und wie ist dein neuer Tutor, mein Junge? Führt er dich in geistige Höhen?«
»Frag lieber nicht«, sagte ich. »Wenn man den besten Lehrer hatte, den es gibt, kann jeder Nachfolger nur eine Enttäuschung sein.«
»Das meinst du doch nicht im Ernst?« Andreas legte mir eine Hand auf die Schulter.
»Doch«, sagte ich, und ich glaube, er spürte, dass ich es auch so meinte.
»Mein lieber Junge! Man sollte niemals auf Schmeicheleien hereinfallen, aber ich glaube dir.« Er umarmte mich zum Abschied, und eine Träne fiel auf meine Wange, als er mich küsste.
Es stimmte wirklich, mein Vater hatte bei der Wahl meines neuen Tutors keine glückliche Hand bewiesen. Er hieß Baruch, und entweder war sein Ruf als großer Gelehrter völlig unbegründet, oder Baruch hatte seine beste Zeit hinter sich. Als ich ihn kennenlernte, war er jedenfalls kaum Mittelmaß. Er kannte sich weniger gut mit den Heiligen Schriften aus, war weniger mit Philosophie und Geschichte vertraut als Andreas. Mit der Zeit bekam ich den Eindruck, dass er womöglich weniger wusste als ich. Ich kannte mehr Texte auswendig als er und konnte korrekter zitieren. Sein Griechisch war voller grammatikalischer Fehler, und selbst Hebräisch sprach er nicht besonders gut. Er war nicht gewitzt, dafür zeichneten sich seine Unterrichtsstunden durch übertriebene Pedanterie aus. Ein Thema, das er immer wieder behandelte, waren »Erkennungsmerkmale des neuen Messias«. Dieser Messias, sollte er denn eines Tages kommen, würde eine Reihe strenger Prüfungen zu bestehen haben, ehe mein Tutor bereit wäre, ihm Echtheit zu bescheinigen.
Ich war froh, dass Jesus nicht von ihm unterrichtet wurde. Er wäre nicht nur ungeduldig geworden, sondern hätte sich wahrscheinlich so sehr über den Mann aufgeregt, dass die Absprachen, die ich mit ihm traf, nicht funktioniert hätten.
Ich übte mich nämlich in Diplomatie. Ich tat so, als sei ich ein eifriger Schüler und Baruch ein guter Lehrer. Schon bald ließ er mir freie Hand – ganz den Wünschen eines jungen Mannes in meinem Alter entsprechend. Trotzdem machte seine Pedanterie mir das Leben schwer, vor allem am Sabbat, aber auch bei der Reinlichkeit und den Mahlzeiten. Für ihn war wichtig, dass alles in der richtigen Reihenfolge geschah, zur rechten Zeit und mit den immer gleichen Ritualen, ohne die geringste Abweichung.
Baruchs Frau, Ruth, bemutterte mich wie eine Glucke und mästete mich regelrecht, aber als Einzelkind war ich derlei gewohnt und wusste, wie ich die gute Frau auf Distanz halten konnte, ohne sie zu kränken. Ruth erzählte mir einmal, sie habe sieben Kinder geboren. Fünf waren im Kindesalter gestorben, drei davon innerhalb einer einzigen Woche, als eine fürchterliche Plage ihre Wohngegend heimsuchte, weil ein Nachbar sich der unsäglichsten Gotteslästerung schuldig gemacht habe. Alle nachfolgenden Gebete und Opfergaben hätten nicht ausgereicht, um den beleidigten und auf Rache sinnenden Gott zu besänftigen. Ich verstand, dass der Tod der drei Kinder, die zu der Zeit ihre einzigen Nachkommen gewesen waren, ihr schreckliche Angst gemacht hatte. Danach hatte sie lange das Gefühl, ganz in der Nähe braue sich wieder ein vernichtender Sturm zusammen oder eine feindlich gesonnene Legion sei im Anmarsch. Auch wenn es keine handfesten Anzeichen für so ein Unglück gab, fühlte sie es doch herannahen, und das Einzige, was sie tun konnte, um nicht allzu hart davon getroffen zu werden, war, den Haushalt mit äußerster Sorgfalt zu führen, schwer zu arbeiten und viel zu beten.
Ihre nachgeborenen Kinder, beides Jungen, waren inzwischen zu jungen Männern herangewachsen und wohnten in Jerusalem. Als ich fragte, was sie dort taten, sagte sie, sie seien im Tempel beschäftigt und hätten dafür zu sorgen, dass die Lampen immer genug Brennstoff hatten, dass die Fußböden im Obergeschoss geschrubbt und stets sieben Sorten Weihrauch vorrätig und angezündet waren. »Sie sagen, der Duft ist so stark und süß«, sagte sie, »dass sogar die Ziegen auf dem Ölberg davon niesen müssen.«
Ich war mir nicht
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