Mein Name war Judas
durchziehenden römischen Brigaden. Die Leute unterhielten sich miteinander, und immer wieder lobpreisten sie Gott. Es herrschte keine Trauerstimmung, niemand weinte oder wehklagte. Das Ganze erinnerte eher an ein Fest. Vielleicht lag dafür ein besonderer Grund vor, vielleicht akzeptierten die Leute aber auch nur den Tod und sahen ihn nicht als einen Schicksalsschlag, sondern als Gottes Willen, den sie nicht infrage stellten.
In dem Moment, als die Leichenträger in der Mitte der Menge an uns vorbeikamen, verlangsamte sich der Zug, weil sich die Straße an dieser Stelle verengte, und wir konnten das Gesicht des jungen Toten aus nächster Nähe sehen. Außer dass es völlig reglos war, hatte es nicht die Aura des Todes.
Als dann alle an uns vorübergezogen waren, saßen Jesus und ich eine Weile schweigend da, noch ganz ergriffen von der Begegnung mit dem Tod. Ich sah ihn an und war von seinem entrückten Gesichtsausdruck überrascht. Seine Augen glänzten und schienen etwas zu sehen, das nicht von dieser Welt war.
»Ich hätte ihn fast berühren können«, sagte er.
»Ja, sie waren so nah«, bestätigte ich. »Ein merkwürdiges Gefühl, nicht wahr?«
Aber er schien mich gar nicht zu hören. Stattdessen sprach er mit sich selbst. »Ich hätte es tun sollen. Ich hätte sein Gesicht berühren sollen.«
Das schien mir keine gute Idee zu sein, und ich sagte es ihm.
Er blickte über den See. »Er wäre wieder lebendig geworden. Ich habe sie gespürt – diese Kraft. Er wäre ins Leben zurückgekehrt.«
Ich verstand nicht, was er meinte. Es war unheimlich und peinlich. Aber ich sagte nichts. In dem Moment nicht und später auch nicht.
Für mich war’s Theater,
wenn tote Könige
agierten und Propheten
aus ihren Gräbern
stiegen. Alles hatte
seine Zeit. Hier und jetzt
sangen Vögel,
knospten Weinreben.
Und unsere
Leiber konnten zu
anderen werden. Alles
jedoch musste sterben,
und der Tod war stumm.
Nicht aber für
meinen Freund, der
das Schweigen brechen,
das Dunkel erhellen
wollte. Das Ende war
für ihn kein Ende.
Er sah sich als
Spender neuen Lebens.
Kapitel 7
Von uns drei Schülern wurde Thaddäus als Erster erwachsen. Er war durch und durch »normal«, aber ich hätte ihn damals wohl – nicht ganz fair – als »gewöhnlich« bezeichnet; doch das mag jeder selbst entscheiden. Nach einem Wachstumsschub war Thaddäus plötzlich hoch aufgeschossen, hübsch anzusehen, athletisch. Er hatte viele Freunde, war pragmatisch, zuverlässig und umgänglich. Obwohl er viel konnte und selbstbewusst war, ging er keine Risiken ein. Nie kam etwas Originelles aus seinem Munde, aber auch nichts Dummes oder Bösartiges.
Eines Tages sagte ich zu Jesus, Thaddäus habe eigentlich größere Wertschätzung verdient, als ich ihm entgegenbrachte. Seine Reaktion war harsch. »Thaddäus besitzt keine Leidenschaft. Er ist ein Fußsoldat.«
Er selbst entwickelte sich zu dieser Zeit immer mehr zu einem brillanten, wenn auch undurchsichtigen jungen Mann. Er war sich seiner intellektuellen Überlegenheit bewusst, seines fragwürdigen Sozialverhaltens jedoch nicht. Er hatte eine spitze Zunge, und selbst Leute, die ihm nichts Böses wollten, waren von seinen schneidenden Bemerkungen oft gekränkt. Wenn er sich in seiner Umgebung jedoch sicher fühlte und seinen Gesprächspartnern vertraute, war er klug, amüsant, tiefgründig und mitteilsam, ohne zu verletzen. Schon zu dieser Zeit stand er auf Seiten der Armen und Unterdrückten, und wenn es um ihre Belange ging, konnte er sehr engagiert und streitbar sein.
Als das nächste Schuljahr nahte, beschloss mein Vater, mir eine höhere Bildung angedeihen zu lassen, als Andreas sie mir bieten konnte. Er fand einen Tutor in Sepphoris, zwei Stunden Fußmarsch von Nazareth entfernt, bei dem ich wohnen konnte. Thaddäus und seine Schwester Judith zogen ebenfalls nach Sepphoris, wo Thaddäus die Leitung des Getreidehandels übernehmen sollte, der seinem Onkel gehörte. Dieser hatte nach dem Tod seiner Frau einen Zusammenbruch erlitten, Judith sollte ihm nun den Haushalt führen und seine Kinder beaufsichtigen.
Andreas hätte Jesus weiter unterrichten können, da zwei neue Schüler zu ihm kamen, die für ihren Unterricht bezahlten, doch Jesus lehnte das ab. »Ich habe Andreas schon viel zu lange in Anspruch genommen«, sagte er. »Und ich kann ihn auch künftig nicht bezahlen.«
Wir befanden uns auf dem Heimweg, nachdem wir uns von Andreas verabschiedet hatten – dieses Mal
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