Mein Name war Judas
tränenreich, weil unsere Zeit mit ihm vorbei war.
»Er hätte dich gern als Schüler behalten«, sagte Thaddäus zu Jesus. »Hast du gesehen, wie traurig er ist? Der arme Kerl betet dich an.«
»Ein weiterer Grund, die Sache zu beenden«, erwiderte Jesus. »Es ist Zeit, zu neuen Ufern aufzubrechen.«
»Zu welchen Ufern?«, fragte ich, und er erwiderte großspurig, aber mit selbstironischem Lächeln: »Die nächste Stufe auf der Leiter.«
»Welche Leiter? Die Jakobsleiter?« Das war typisch Thaddäus.
Jesus lachte. »Wer die Jakobsleiter erklimmen will, muss auch bereit sein, auf dem Jakobskissen zu schlafen.«
Ich wusste, dass es die Bezeichnung für einen Stein war. Trotzdem blieb unklar, was Jesus damit meinte, er verriet nichts weiter über seine Pläne. Am nächsten Tag war er verschwunden. Das war seine Art des Abschiednehmens: einfach verschwinden. Es schmerzte, aber so war er nun einmal. Man erwartete von ihm gar nicht erst, »nett« zu sein.
So verschwand er aus unserem Leben und aus Nazareth. Mit Ausnahme eines kurzen Besuchs auf meiner Hochzeit sollte ich ihn einige Jahre nicht wiedersehen.
Wenn ich während meiner Schulzeit in Sepphoris nach Nazareth zurückkehrte, um meine Mutter zu besuchen, schaute ich manchmal auch bei Josef und Maria vorbei und fragte, ob sie etwas von Jesus gehört hätten. Die Antwort war immer dieselbe: nein.
»Nichts«, sagte Josef und schüttelte traurig den Kopf.
Doch Maria lächelte dann still und gab mir das Gefühl, sie wüssten, wo Jesus war, und dass zumindest sie, Maria, mit seinem Lebenswandel einverstanden sei.
Eines Tages fiel mir ein, dass ich auch Andreas nach Jesus fragen könnte. Er begrüßte mich mit einer herzlichen Umarmung und bat mich ins Haus, wo er mir Feigen und Oliven auf Weinblättern und einen Becher leichten Weins zur Stärkung anbot. »Ah, unser brillanter Jesus«, sagte er. »Unser Lieblingsschüler. Wie haben wir ihn geliebt, nicht wahr, Judas? Und wie wir ihn vermissen!«
Ich stimmte ihm zu, wenn auch peinlich berührt.
»Ich habe nichts von ihm gehört«, fuhr Andreas fort. »Ich erkundige mich öfter nach ihm, aber seine Mutter will mir nichts sagen, sondern lächelt nur vor sich hin wie ein hoffärtiges Kamel, als wolle sie sagen: ›Ich weiß etwas, das du nicht weißt.‹ Jesu Vater mag ich gern, aber er hat nicht viel zu lachen. Wie auch, wenn man mit so einer Person verheiratet ist?«
»Sie ist wirklich merkwürdig«, bestätigte ich.
»Aber ich glaube, ich weiß, wo Jesus ist. Ich vermute nämlich, dass er meinem Rat gefolgt ist.« Er zögerte, ehe er weitersprach. »Du weißt nichts davon, nicht wahr? Nein. Er wollte nicht, dass es jemand erfährt.«
Er blickte nach rechts und nach links, um sich zu vergewissern, dass auch ja niemand zuhörte. Dann beugte er sich vor und legte mir eine Hand aufs Knie. »Ich habe ihm geraten, ans Tote Meer zu gehen. Nach Qumran.«
Ich war überrascht, ja schockiert. Nach Qumran hatte sich eine Sekte zurückgezogen, die als die Essener bekannt war. Ich wusste nicht viel über sie, nur dass es sich um einen Männerorden handelte, der gegen die Tempelpriester rebellierte. Er galt als unzugänglich, mystisch und der Geheimhaltung verpflichtet. Mein Vater bezeichnete die Mitglieder als Fanatiker.
»Ich dachte, dort könnte er – sofern die Bruderschaft ihn als Gast duldet – mehr lernen, als ich oder jeder andere Lehrer ihm beibringen kann. Aber es ist natürlich nicht ohne Risiko.«
Das Problem sei, dass die Bruderschaft früher oder später von ihm verlangen werde, ihrem Orden beizutreten. Davor habe er, Andreas, Angst, denn wer diesen Schritt einmal vollzöge, könne ihn nie wieder rückgängig machen. Es sei eine Entscheidung fürs Leben.
»Und das wäre eine schreckliche Verschwendung«, sagte Andreas.
Er habe Jesus vor den strengen Regeln gewarnt, die dort galten, aber es seien hochgelehrte Leute, die seinen scharfen Verstand gewiss zu schätzen wüssten. Jesus solle ihnen einfach sagen, er sei sich noch nicht sicher, ob er zum Ordensmann berufen sei.
»Halte sie hin«, habe er ihm gesagt. »Halte sie hin, und lerne derweil, so viel du kannst. Mit etwas Raffinesse wirst du es schon schaffen.«
Ich sagte, das sei ein guter Rat gewesen.
»Das hoffe ich, Judas. Aber es ist auch ein Glücksspiel. Jeden Monat, der ohne eine Nachricht von ihm vergeht, frage ich mich, ob wir ihn je wiedersehen werden.«
Er fragte nach meinen Gedichten und drängte mich, ihm einige vorzutragen. Ich
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