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Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. K. Stead
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trugen Masken und deklamierten den Text in einem hohen, laut tönenden Singsang. Auf diese Weise wirkten ihre Worte bedeutsamer als die jedes Rabbis – bisweilen einschüchternd, dann wieder betörend. Wenn Komödien gespielt wurden, stellten die Masken manchmal Tierköpfe dar, und ein oder zwei Mal trug der Schauspieler, der einen Fruchtbarkeitsgott darstellte, einen enormen Phallus. Keiner von uns konnte die Stücke Wort für Wort verstehen, da sie auf Griechisch gespielt wurden, aber im Großen und Ganzen konnten wir uns einen Reim darauf machen, zumal die Geschichten als solche immer klar wurden und ihre Schlüsse – Tod bei Tragödien, Hochzeit bei Komödien – keine Fragen offen ließen. Wir erwarteten keine Überraschungen, sondern folgten gebannt, wie sich aus vertrauten Situationen durch einen Irrtum oder ein einziges Missverständnis Schritt für Schritt ein Drama entwickelte, das zu einem bitteren (oder bittersüßen) Ende führte.
    Wenn wir dann in Nazareth zurück waren, dachten wir uns auf Aramäisch eigene Stücke aus und spielten sie selbst. Sie wurden zu einem festen Bestandteil unseres Unterrichts bei Andreas. Unsere Version von König Davids Leben fanden wir besonders gelungen. Noch besser aber war unser Stück über die Abenteuer Daniels, eine Komödie (wegen des guten Ausgangs) mit dem Titel Babbel-on . Jeder von uns vieren musste mehrere Rollen spielen.
    Es stellte sich heraus, dass Andreas der geborene Komödiant war. Sein Nebukadnezar war fantastisch. Jesus spielte den Daniel, Thaddäus und ich Meschach und Schadrach, die von Nebukadnezar in den Feuerofen geworfen werden sollten, zusammen mit Abed-Nego, dargestellt von einem Schal meiner Mutter, den wir so ans Fenster drapierten, dass man ihn flattern sehen und denken konnte, eine weitere Person stünde dahinter.
    Im nächsten Akt versuchte Jesus als Daniel auf Belsazars Fest die Schriftzeichen an der Wand zu interpretieren. Ich war Belsazar, dann wechselte ich in die Rolle des Darius, der Daniel in die Löwengrube warf, weil er sich nicht an dessen Gebot hielt, dreißig Tage lang auf Gebete zu verzichten. Thaddäus war der Löwe, der Daniel beschnüffelte und ableckte und schließlich brüllte, als sei er hungrig, dann aber zu seiner eigenen Überraschung völlig appetitlos war und sich friedlich mit Daniel zur Nacht bettete.
    Im letzten Teil des Stücks lief Jesus dann zu Hochform auf, wenn Daniel eine Vision hatte, in der ihm etwas Mysteriöses, Wichtiges, Unverständliches offenbart wurde. Diese Stelle hatten wir nicht ausformuliert, sondern nur grob skizziert, um Jesus freie Hand zu lassen. Bei jeder Aufführung wurde sein Monolog länger, extravaganter, düsterer und schöner. Jesus sprach so beseelt, dass wir die »drei großen Könige Persiens und einen vierten, noch größeren« förmlich vor uns sahen, wir sahen den Zusammenbruch des »mächtigsten Königreichs« und wie es in alle vier Winde zerstreut wurde, wir sahen »den König des Nordens und den König des Südens« in die Schlacht ziehen, die Zehntausende das Leben kosten würde.
    Nichts konnte unseren Daniel bremsen. Er redete und agierte wie eine Naturgewalt. Wenn ihm der Engel erschien und die Schläfer auf der Erde erwachten, manche zu ewigem Leben, manche zu ewiger Verdammnis, senkte Jesus dramatisch die Stimme, und ein Schleier legte sich über seine Augen. An der Stelle, wo der Prophet über den Fluss blickte und »einen Mann in Leinen gewandet« sah, fragte Jesus so herzergreifend: »Wann sollen denn diese großen Wunder geschehen?«, dass er, um es mit den Worten der alten Schriften auszudrücken, »leuchtete wie des Himmels Glanz«.
    Diese Szene endete immer damit, dass wir anderen eine Weile sprachlos dastanden und dann applaudierten. Jesus, sagte Andreas und küsste ihn, habe gewiss eine große Zukunft als Schauspieler vor sich.
    Trotz dieses Erfolgs war es aber ausgerechnet das Stück über Daniel, das Jesus dazu brachte, sich von der Poesie und dem Theater abzuwenden. Und zwar von heute auf morgen, über Nacht. Er sagte, er habe einen Traum gehabt, in dem Gott zu ihm gesprochen und gesagt habe, dass Er unsere Schauspielerei verachte. Wir hätten einen heiligen Text verhöhnt. Wir hätten Geschichten dargestellt, in denen Er selbst, Gott, wenn auch unsichtbar, gesprochen habe. Wir hätten Ihn zu einer Theaterfigur gemacht. Glaubten wir wirklich, das sei Ihm, der Tag und Nacht über uns wache, gleichgültig?
    Jesus begann sofort zu büßen. Er betete und

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