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Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. K. Stead
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so schön ist. Als der Leprakranke bettelnd auf uns zukam, bist du schnell weitergegangen.«
    Das stimmte, aber ich stritt es ab. »Ich habe ihr Geld gegeben, weil sie ein krankes Kind hat.«
    »Lügner«, sagte er. »Lieber wäre dir, das Kind stürbe und du könntest sie zu deiner Mätresse machen.«
    Das war so nah an der Wahrheit, dass es mich wütend machte. Immerzu dachte ich in jener Zeit an Frauen und an körperliche Liebe. Jesus schien sich für derlei überhaupt nicht zu interessieren, aber hätte er meine geheimsten Fleischeslüste erraten, wenn er dem anderen Geschlecht gegenüber taub war?
    »Kamelscheiße! Schließe nicht von dir auf andere«, zischte ich. »Du hast es ausgesprochen, nicht ich.«
    »Aber gedacht hast du es«, sagte er. »Sonst würdest du dich jetzt nicht so aufregen.«
    So war er. Doch es wäre zu einfach, ihn als notorischen Besserwisser zu bezeichnen. Zwar machte er mir andauernd Vorhaltungen, aber es steckten kluge Beobachtungen dahinter. Es war eine Art Spiel, der Versuch, permanent meine Gedanken zu lesen oder Andreas’ und Thaddäus’ Gedanken. Und zwar mit der gleichen Genauigkeit, wie er schwierige Texte las, aus Freude am Aufspüren verborgener Wahrheiten.
    Mit der Pubertät wuchsen wir beide zu… man könnte sagen: jungen Intellektuellen heran. Aber es gab Unterschiede zwischen uns. Was uns einte, war die Scham über Israels Unterwerfung gegenüber Rom, und wir wussten – das heißt, so hatte man es uns beigebracht und wir glaubten es –, dass der Gott Israels diesen Zustand nicht ewig dulden würde. Eines Tages würde er »Genug!« rufen, und alle, die Schmach über das auserwählte Volk gebracht hatten, würden tausendfache Schmach erleiden. Unsere Feinde würden in den Dreck getreten und müssten Staub schlucken wie die Schlangen und alles, was am Erdboden kreucht … Und so weiter.
    Mittlerweile, und ganz im Widerspruch dazu, begann ich, gewisse Aspekte der römischen und griechischen Zivilisation zu schätzen: ihre Kunstwerke, die Architektur, die Keramiken, die edlen Gewänder, den Schmuck sowie – etwas, das für mich neu und aufregend war – ihre Poesie und das Theater. Tiberias, am Ufer des Sees Genezareth, wo mein Vater meist wohnte und wo er den größten Teil seiner Geschäfte abwickelte, war vom Provinzfürsten Herodes Antipas erbaut worden und noch nicht ganz fertig. Die Stadt sollte, wenn auch nicht ganz so groß, ein Pendant zu Cäsarea sein, der Stadt, die Antipas’ Vater am Mittelmeer erbaut hatte. Die Straßen gingen in rechten Winkeln von der Hauptachse, dem cardo , ab. Dieser war breit und schnurgerade, und beide Straßenseiten waren von Granitsäulen gesäumt. Die Kanalisation befand sich unter dem Straßenpflaster, sodass die Abwässer nicht offen durch die Stadt flossen. Schmucke Holzbuden mit Schilf- oder Palmdächern beherbergten Marktstände und schützten Käufer wie Händler vor der Sonne. Die Häuser waren weiß gekalkt, hatten Dächer aus roten Ziegeln und großräumige, gepflasterte Innenhöfe. Die Brunnen waren tief und ihr Wasser kühl, frisch und unerschöpflich.
    Eines Tages besuchte Andreas mit uns dort das Theater, und auch zu den Spielen nahm er uns mit. Die Spiele, das waren große Volksfeste, bei denen junge Männer sich in Ringkämpfen und Wettrennen, Diskus- und Speerwerfen sowie Weitsprung nach griechischer Art miteinander maßen. Eigentlich hätten wir nicht dabei sein dürfen, denn diese Spiele waren heidnischen Göttern gewidmet, aber der Fürst selbst war der Schirmherr, und mein Vater hatte keine Bedenken gegen unsere Teilnahme; nur meine Mutter, fand er, brauche nicht unbedingt etwas davon zu wissen.
    Jesus hat seinen Eltern mit Sicherheit nichts davon erzählt. Josef und Maria waren die neuen Städte Galiläas unheimlich, zumal sie ihrer Meinung nach mit Steuergeldern erbaut worden waren, die der bäuerlichen Landbevölkerung abgepresst wurden. Außerdem stellten sie in ihren Augen wahre Lasterhöhlen dar. Trotzdem erlaubten sie Jesus die Reise, weil Andreas sagte, sie sei Teil einer zeitgemäßen Erziehung. Maria betrachtete den Unterricht, den Jesus durch Andreas erhielt, als ein Gottesgeschenk, einen Segen und eine himmlische Fügung, die ihrem Erstgeborenen eine große Zukunft bescheren würde.
    Das Theater hatte es uns sofort angetan. In den folgenden zwei Jahren besuchten wir es oft, manchmal nur Jesus und ich, manchmal zusammen mit Andreas, der gelegentlich auch Thaddäus mitbrachte. Die Schauspieler

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