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Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. K. Stead
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Anführer der Jesussekte in Jerusalem, kürzlich gekreuzigt worden sei.
    Ich war schockiert. Mein Hals zog sich zusammen, und Tränen stiegen mir in die Augen. Ich war froh, dass mein Gast mich nicht sehen konnte. Falls sein junger Begleiter es sah, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. Ich hatte Jakobus als einen aufgeweckten jungen Burschen in Erinnerung. All die Jahre hatte ich nichts mehr von ihm gehört, so wusste ich auch nicht, dass er sich den Anhängern seines Bruders angeschlossen hatte.
    Heute Morgen bin ich mit den ersten Sonnenstrahlen aufgewacht und auf den Balkon gegangen. Das Meer war ruhig und färbte sich langsam blau, als die Sonne über die östlichen Hügel stieg. Das beruhigende »Schasch« war zu hören, das Geräusch, mit dem die Wellen bei ruhiger See ans Ufer rollen. Unten auf der Straße bauten die Marktbeschicker ihre Stände auf und unterhielten sich leise miteinander. So früh am Morgen nehmen sie Rücksicht auf die Anwohner der umliegenden Häuser, die um diese Zeit fast alle noch schlafen. Dann drang aus der Ferne plötzlich das »Slaff-Slaff-Slaff«, das ich schon so oft gehört hatte – ein Trupp Römer, der sich im Eilschritt näherte, begleitet von nur einem Trommler, der das Tempo vorgab. Das Geräusch kam immer näher, und bald kamen die Soldaten in Sicht. In südlicher Richtung marschierten sie durch die Hauptstraße auf Cäsarea zu und boten mit ihrer Disziplin, ihrer Uniformität und ihrer ameisengleichen Einfügung ins Kollektiv, wie immer einen imposanten Anblick.
    Ich musste wieder an den jungen Jakobus denken; ich stelle ihn mir immer noch so jung vor, wie er war, als ich ihn kannte. Der Nachtschlaf hatte mich die Nachricht von seiner Hinrichtung vergessen lassen, aber jetzt kehrte der Schmerz zurück. Dass er den gleichen grausamen Tod gefunden hatte wie sein Bruder! Mir wurde bewusst, wie sehr ich die da unten hasste, die fremden Herrscher, die unser ganzes Leben kontrollierten. Hätte ich über die Jahre nicht gelernt, mich zu beherrschen, oder hätte ich mit einem raschen Abschied von dieser Welt geliebäugelt, hätte ich mich über die Balkonbrüstung gebeugt, die Soldaten verflucht und ihnen vor die Füße gespuckt.
    Ptolemäus nennt er sich
    und bringt
    (sagt er) das Wort.
    Und die mit den
    Waffen und Rüstungen
    bringen den Segen Roms.
    Die Wahl: Ein kurzes
    Leben mit guten Straßen,
    gutem Wein und Essen
    oder ewiges Leben,
    lobpreisend
    den Großen, den
    Höchsten. Gott, glaubte
    ich an Dich, so
    würde ich beten: »Hilf mir,
    diesen nimmersatten
    Jägern von Seele
    und Macht zu entkommen!«

Kapitel 6
    Neulich Nacht hatte ich einen Traum, vermutlich nur eine ungewöhnlich lebendige Erinnerung an Jesus. Jesus und ich, wir waren um die sechzehn, hatten gerade das monumentale Tor von Tiberias mit seinen zwei Rundtürmen durchschritten und gingen auf dem cardo , der Hauptstraße, an farbenfrohen Fresken und Mosaiken vorbei. Im Traum empfand ich den Anblick als genauso erfrischend und aufregend wie damals. Zugleich merkte ich, dass Jesus meine Begeisterung nicht teilte. Zumindest tat er so, als lasse ihn das alles kalt. Ich glaubte zu wissen, warum. Er wollte mich als Romanophilen bloßstellen, als kolonisierten, abtrünnigen Juden.
    Wir spazierten die Straße entlang und fühlten uns erwachsen und unabhängig, ja, wir waren mit uns zufrieden, mit unseren neuerdings so kräftigen Körpern und tiefen Stimmen. Eine Bettlerin mit einem kranken Kind im Arm streckte ihre Hand aus und wollte Geld. Anders als die meisten anderen, die schmutzig und gebrechlich waren, war sie eine regelrechte Schönheit, und ich gab ihr eine Münze.
    »Gib ihr mehr«, sagte Jesus.
    »Gib du ihr doch mehr«, sagte ich.
    Er holte seine Geldbörse hervor und stülpte das Innere nach außen. Sie war leer.
    »Wie üblich«, sagte ich.
    »Richtig«, sagte er. »Weil ich nicht so ein Knauser bin wie du. Ich habe dem Leprakranken vor dem Stadttor mein letztes Geld gegeben.«
    Andauernd bezichtigte er mich des Geizes. Ich musste mir auf die Zunge beißen, um nicht zu sagen, dass das, was er als Knauserei bezeichnete, lediglich ein verantwortungsbewusster Umgang mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln war. Es gehörte nicht viel dazu, verschwenderisch zu sein, wenn man so gut wie nichts besaß.
    Ich gab der Frau noch eine Münze, eine größere, und sie schenkte mir ein Lächeln, von dem mir beinahe schwindelig wurde.
    Im Weitergehen sagte Jesus zu mir: »Du hast ihr Geld gegeben, weil sie

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