Mein Name war Judas
Geschichten nicht und war auf diesem Auge blind. Geschichten aus meiner Kultur, bei denen es um Liebe ging, bezogen sich auf das Verhältnis von Mensch und Gott. Man sollte den Herrn lieben und so leben, dass Er einen ebenfalls liebte. Zumindest in der mir bekannten hebräischen Literatur tauchte der Begriff »Liebe« ausschließlich in diesem Zusammenhang auf. Mit Frauen zeugte man Kinder, und man nahm die Mahlzeiten ein, die sie einem zubereiteten. Heute denke ich, dass Andreas’ Unterricht in diesem Punkt zu kurz gegriffen hatte.
Wahrscheinlich war in den Theaterstücken, die ich in Tiberias gesehen hatte, mehr als genug enthalten, das mich etwas über die Natur und den Wahnsinn der Liebe hätte lehren können. Doch sosehr diese Stücke mich auch berührt hatten, war es mir nie in den Sinn gekommen, sie auf mein eigenes Leben zu beziehen. Vielleicht hätte ich sie eher auch auf mich bezogen, wären sie in meiner Muttersprache dargeboten worden.
Judith wusste, dass ich mich in sie verliebt hatte, Frauen sind so. Sie wusste auch, wie sie mir später anvertraute, dass sie in mich verliebt war, doch sie war bereit zu warten, bis mir endlich ein Licht aufginge – und sollte es ewig dauern.
Ich brauchte lange, aber nicht ewig. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen, als wir zusammen das Hohelied lasen. Ich weiß gar nicht, warum wir es lasen, aber es hatte durchschlagende Wirkung, einem Erdrutsch nicht unähnlich. Was mich am meisten beeindruckte, als wir uns den Text erarbeiteten, war die Tatsache, dass hier mit der Stimme einer Frau gesprochen wurde. Derlei war mir in den Heiligen Schriften noch nie zuvor begegnet. Auch ein Mann kam im Hohelied zu Wort, aber nur indirekt, wenn die Frau ihn zitierte. Beide drückten ihre Liebe mit einer unvergleichlich kraftvollen Sprache aus, ganz unverhohlen, ohne Scham oder Schüchternheit. Es war die Sprache einer Liebe, die mit Gott nichts zu tun hatte.
»Der Geliebte spricht zu mir: ›Steh auf, meine Freundin, so komm doch! Denn vorbei ist der Winter, verrauscht der Regen. Auf der Flur erscheinen die Blumen; die Zeit zum Singen ist da. Die Stimme der Turteltaube ist zu hören in unserem Land. Am Feigenbaum reifen die ersten Früchte; die blühenden Reben duften. Steh auf, meine Freundin, so komm doch!‹«
Wir lernten ganze Passagen auswendig und fanden oder erfanden Gründe, um sie zu zitieren oder, falls uns das besser gelegen kam, falsch zu zitieren.
»Mit Küssen ihres Mundes bedecke sie mich. Süßer als Wein ist ihre Liebe.«
»Ich suchte ihn und fand ihn nicht. Ich durchstreifte nachts die Stadt, die Gassen und Plätze. Da fanden mich die Wächter, und ich fragte sie: ›Habt ihr ihn gesehen, den meine Seele liebt?‹«
»Oh meine Taube, an jenem geheimen Ort, auf den Stufen zu den oberen Räumen, zeig mir dein Gesicht, lass mich deine Stimme hören, lass mich deinen Mund küssen.«
Wir gingen planvoll vor. Wenn wir vorgaben, an unterschiedlichen Orten etwas besorgen zu müssen, gewannen wir wertvolle Stunden, manchmal halbe Tage, um ungestört allein zu sein, weit entfernt von Haus, Familie und Freunden. Einmal vesperten wir im Freien, und dieses Mal passten die Zeilen in unseren Köpfen besonders gut zu Ort und Zeit. Sie sagten uns, was zu tun war.
»Schön bist du, mein Geliebter, verlockend. Und sieh: Frisches Grün ist unser Lager, Zedern sind die Balken unseres Hauses, Zypressen die Wände.«
Nach diesem Tag gab es kein Zurück mehr.
Moosweich unser Bett
und über uns
Zedern, wo
Quellwasser über
Steine rinnt. Junge
Liebe gedeiht nicht
im Trott des
Alltäglichen. Ich
springe sicher über den Fels,
ein junger Hirsch,
und sie: die
Rose von Scharon,
Lilie unter Disteln.
Sie ist und bleibt –
wie ein schillerndes
Insekt – aufbewahrt
von einem alten
Mann, dem Poeten
Idas von Sidon,
der lächelt
und schweigt.
Kapitel 8
Mein Vater schickte mir eine Nachricht, ich solle zu ihm nach Tiberias kommen. Ich erschrak und fürchtete, man habe unsere Liebe entdeckt, aber dann stellte sich heraus, dass ich ihn nur nach Jerusalem begleiten sollte, wo er einen wichtigen Mann aufsuchen wollte, einen Rabbi, der mit meinem Onkel, dem Priester, befreundet war. Eine weitere Erklärung erhielt ich nicht, aber ich glaubte zu wissen, dass es um meine Zukunft ging, und das beunruhigte mich. Immerhin würde ich bei dem Zusammentreffen Gelegenheit haben, ihm zu sagen, dass ich Judith liebte und dass wir heiraten wollten.
Der Mann, den wir besuchen
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