Mein Name war Judas
so plötzlich überfallen habe. Die »Verfügbarkeit«, so drückte er es aus, einer so wünschenswerten jungen Frau sei ihm ganz unerwartet zur Kenntnis gebracht worden, und er habe die Sache noch vor seiner Abreise spruchreif machen wollen. Da das nunmehr geschehen sei, habe alles Weitere Zeit. Während er auf Reisen sei, solle ich meine Ausbildung bei Baruch zum Abschluss bringen und mich auf das Leben als Ehemann vorbereiten. Nach seiner Rückkehr solle der Onkel in Jerusalem informiert werden, und dann könne die Hochzeit stattfinden.
»Besuche sie von Zeit zu Zeit«, riet er mir. »Mach dir klar, dass sie zukünftig dein Bett teilen wird. Du bist jung und gesund, genau wie sie. Gewiss hast du gegen diese Vorstellung nichts einzuwenden.«
Ich widersprach nicht und benahm mich, wie ich es wahrscheinlich getan hätte, hätte ich Judith nicht gekannt: zögerlich –, spontane Begeisterungsstürme hätten nur seinen Argwohn geweckt –, aber willig, da ich kein Recht und keinen Grund hatte, mich zu widersetzen.
Die Reisevorbereitungen nahmen die ganze Aufmerksamkeit meines Vaters in Anspruch, und vorerst dachte er nicht weiter über meine Zukunft nach. Die Karawane setzte sich zur geplanten Zeit in Bewegung, und ich nahm von meinem Vater Abschied. Trotz allem hatte ich ihn gern, und nie zuvor hatte ich ihn so voller Vorfreude, so jung und agil gesehen. Sein Enthusiasmus bezog sogar mich mit ein.
»Lerne fleißig«, sagte er. »Und was die Hochzeit angeht, mein lieber Judas, so wirst du dich gewiss bald an den Gedanken gewöhnen.« Er küsste mich auf beide Wangen. »Wenn es so weit ist, wirst du es bestimmt nicht bereuen.«
In den folgenden Wochen und Monaten habe ich viele Lügen und Halbwahrheiten von mir gegeben. Es traf sich gut, dass meine Eltern sich mittlerweile noch stärker auseinandergelebt hatten und einander kaum noch sahen. Ich erzählte meiner Mutter, mein Vater habe nichts gegen meine Eheschließung – was ja stimmte, nur dass er dabei nicht an Judith dachte. Judiths Familie erzählte ich, mein Vater habe unmittelbar vor seiner Abreise von unseren Heiratsplänen erfahren, uns seinen Segen erteilt und gesagt, wie sehr er bedaure, bei der Hochzeit nicht anwesend sein zu können. Es sei sein Wunsch, dass Andreas, der Thaddäus und mich unterrichtet hatte, ihn als väterlichen Begleiter vertreten solle. Meine Mutter werde natürlich dabei sein. Ich suchte sogar noch einmal den Rabbi auf und sagte ihm, mein Vater habe voreilig gehandelt, ich sei nicht bereit zu heiraten, sondern wolle zölibatär leben, nur meinen Studien und meiner spirituellen Reifung verpflichtet; ich dächte daran, mich den Essenern anzuschließen. Letzteres erschreckte ihn so sehr, dass ich mich schnell wieder verabschiedete. Ich hatte es also geschafft, mich vor seiner Tochter in Sicherheit zu bringen – und sie vor mir.
Nur Judith und Andreas sagte ich die Wahrheit. Judith war das Ganze ein wenig unheimlich, aber unsere Liebe gab uns die Kraft, an unserem Plan festzuhalten. Wir sprachen alles gut ab, damit wir den gleichen Leuten die gleichen Lügen erzählten. Andreas konspirierte fleißig mit, obwohl sich Skepsis und Eifer, Furcht und Enthusiasmus bei ihm die Waage hielten. Ich war mir nicht sicher, ob es richtig war, ihn einzubeziehen, aber als der Tag dann kam, spielte er seine Rolle mit der Gelassenheit eines geübten Schauspielers.
*
Gestern haben Theseus und ich uns auf dem Marktplatz eine Predigt von Ptolemäus, dem blinden Evangelisten, angehört. Er stand neben der Viehtränke und hielt sich mit einer Hand an der Schulter von Reuben, seinem jungen Helfer, fest, der ihn überall herumführt, ihm Essen macht, ihn wäscht und ankleidet. Ptolemäus sprach von den Wundern, die Jesus vollbracht habe und die bewiesen, dass er der Messias sei, den die Heiligen Schriften angekündigt hatten. Das größte Wunder aber, das »Wunder aller Wunder«, sei seine Auferstehung nach der Kreuzigung gewesen.
»Als der Stein von seinem Grab gewälzt wurde«, sagte Ptolemäus, »wurde ein Stein von der Welt gewälzt, von der Seele der Menschen. Als dann am dritten Tag der Sohn Gottes aus der kühlen Gruft stieg, war es jedem von uns gegeben, mit ihm zu gehen, hinauszutreten ins helle Licht des ewigen Lebens. Ich habe so lange gelebt, dass mir die Augen versagen, doch nun, im hohen Alter, sehe ich über die Grenzen unserer engen Welt hinaus und durchdringe das Dunkel, das mich umgibt. Ich sehe über die Dunkelheit des Grabes
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