Mein Name war Judas
sicher, ob das ein Witz sein sollte, fragte aber lieber nicht nach. Sie war sehr stolz auf ihre Söhne. Jetzt verrichteten sie zwar noch niedere Arbeiten, aber eines Tages würden sie Rabbis sein, dessen war sie sich gewiss. Außerdem könnten beide ganz wunderbar singen.
Ich war nun ihr Ersatzsohn. »Deine arme Mutter würde es mir niemals verzeihen, wenn du in unserem Hause krank würdest«, sagte sie und nötigte mir Mahlzeiten auf, die sie extra für mich zubereitete – Eintöpfe aus Linsen und Bohnen, Lammbraten mit frischen Kräutern, Fischsuppen, Salate und Brot aus Mais und Gerste, das sie im eigenen Ofen buk. »Damit du groß und stark wirst«, sagte sie. »Du bist viel zu dünn, Judas. Wenn mal was ist, hast du nichts zuzusetzen.«
Dieses Manko hatten sie und Baruch nicht. Obwohl sie bescheidene Esser zu sein schienen, waren sie von stattlicher Statur. Ich dagegen verschlang Unmengen und blieb dünn.
Ich vermutete, dass mein Vater ihnen sowohl für Kost und Logis als auch für meinen Unterricht beträchtliche Summen zahlte, denn Baruch beklagte sich niemals über die Sonderportionen, die ich bekam, während er sonst ein Knauser war und alles seinen gewohnten Gang gehen musste. Was ihn jedoch zunehmend zu stören schien, war die Tatsache, dass er mir so gut wie nichts Neues beibringen konnte und mein Vater, wenn er davon erführe, mich zu einem anderen Tutor schicken würde. Er würde dann seiner schönen Einnahmen beraubt sein.
Was mein Vater bezweckte und von mir erwartete, wurde nie ausgesprochen. Ich nehme an, ihm ging es immer noch darum, mir die Anerkennung seiner priesterlichen Familie zu verschaffen. Doch solange er nichts sagte, machte ich einfach nach eigenem Gutdünken weiter und kümmerte mich nicht um seine Ansprüche.
In dieser Zeit gewann ich Thaddäus’ Schwester Judith lieb. Sie sah ihrem Bruder zwar ähnlich, aber in meinen Augen unterschied die beiden, dass sein gutes Aussehen lediglich von Gesundheit, ausgewogener Ernährung und einem soliden Stammbaum zeugte, während sie darüber hinaus eine ganz außerordentliche Anmut besaß.
Judith sah wie eine ägyptische Königin aus, eine junge Kleopatra, sie hatte ebenmäßige Gesichtszüge, große dunkle Augen, einen aufrechten Gang und sprach mit einer sanften, eher tiefen Stimme. Wenn ich mit ihr sprach, hörte sie aufmerksam zu und neigte den Kopf, als lausche sie auf Untertöne, eine verborgene Botschaft, die bedeutender war als die Worte, die ich sprach. Es lag viel Liebreiz in dieser Geste, selbst wenn es vielleicht nur so aussah, als hielte sie für besonders wichtig, was ich sagte. Ihre Augen leuchteten. Sie hatte volle Lippen, und ihr Lächeln war warm und großzügig. Wenn sie sprach, schlich sich manchmal ein heller Ton, ein Kiekser, in ihre sonst tiefe Stimme, und dann schien es, als sei sie dem Lachen nahe.
Lange war mir nicht bewusst, was mit mir geschah, fast zwei Jahre lang. Sie war die Schwester eines Freundes. Doch mit der Zeit wurde mir ihre Freundschaft wichtiger als die von Thaddäus. Wenn wir zusammen waren, unterhielten wir uns miteinander, sonst nichts. Aber wir unterhielten uns oft und lange. Wenn ich nicht bei ihr war, dachte ich an sie. Alles, was ich tat, und das meiste, was ich dachte, musste ich ihr unbedingt mitteilen, wie es mir schien.
Nach einer gewissen Zeit begann ich sie zu unterrichten, heimlich, denn wir wussten nicht, ob derlei erlaubt war. Sie hatte keinen offiziellen Unterricht erhalten, aber sie hatte viel von ihren Brüdern aufgeschnappt. Ich brachte ihr Hebräisch bei, indem ich ihr abgeschriebene Sprüche zu lesen gab, die sie dann auswendig lernte. Da sie den Haushalt führte, Schlüsselgewalt hatte und das Geld verwaltete, konnte sie es so einrichten, dass wir stundenlang ungestört waren.
Als ich später auf diese Zeit zurückblickte, war mehr als offensichtlich, dass ich mich längst in sie verliebt hatte, und ich fragte mich, warum es mir damals nicht klar war. Ich dachte nicht nur ständig an sie und wollte bei ihr sein, bald kamen noch deutlichere Symptome hinzu. Ich wurde unruhig, konnte schlecht schlafen, hatte unzüchtige Träume, spürte übersteigerte Momente und gleich darauf Weltuntergangsstimmung. Aber mir fehlte das entscheidende Wort für meine Zustände. Anders als Menschen, die mit der griechischen Kultur aufwachsen, die ich seither pflege und die so reich an Geschichten über die Liebe zwischen Mann und Frau ist, Mann und Muse, Mensch und Halbgott, kannte ich solche
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