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Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. K. Stead
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Josef von Arimathäa, waren die Betanier nicht für das unstete Leben geschaffen, das wir führten.
    Von den drei Geschwistern mochte Jesus Maria am liebsten. Vielleicht lag es an dem Namen. Da Jesus seine Mutter Maria nicht lieben konnte, fühlte er sich vielleicht genötigt, alle anderen Frauen dieses Namens zu lieben. Martha liebte Jesus nicht weniger als ihre Schwester, aber einmal beschwerte sie sich bei ihm darüber, dass sie für ihn kochen und ihn bedienen müsse, wenn er zu Besuch kam, während ihre Schwester zu seinen Füßen sitzen und sich mit ihm unterhalten dürfe. Er erwiderte, Maria wolle es so, und er habe nichts dagegen. Es war eine indirekte, aber dennoch wenig einfühlsame Art, ihr zu sagen, sie solle weiter ihre Arbeit verrichten und aufhören zu jammern.
    Im Gegensatz zu seinen Schwestern war Lazarus ein schwermütiger Mensch. Als Jesus die drei kennenlernte, war Lazarus zutiefst unglücklich. Es war nichts Bestimmtes, aber eine dunkle Hand, so formulierte er es selbst, strecke sich nach seinem Herzen aus und drücke es von Woche zu Woche stärker zusammen, sodass er oft tagelang im Bett liege und nicht arbeiten, essen, sich waschen oder beten könne. Seine Schwestern hatten von den Heilkräften des Jesus von Nazareth gehört, waren zu ihm gegangen und hatten ihn um Hilfe gebeten. Jesus hatten die beiden schlichten, ledigen Schwestern gut gefallen, und er hatte sie zu ihrem Haus begleitet, wo ihr Bruder im Bett lag und dem Tod nahe war.
    Er blieb einige Tage bei ihnen und unterhielt sich mit Lazarus über die Geschichte und den Gott Israels, über die Heiligen Schriften und Prophezeiungen. Er zitierte lange Passagen daraus, erinnerte Lazarus an die Zukunft, die dem jüdischen Volk vorausgesagt war, und legte diese Prophezeiungen mit zeitgemäßen Gedanken aus.
    Lazarus fühlte sich davon so inspiriert, dass er sich zum ersten Mal seit Monaten wieder wusch und alles aufaß, was man ihm vorsetzte. Er stand auf, machte sich in dem kleinen Garten zu schaffen, der zum Haus gehörte, nahm kleinere Reparaturen vor, lächelte und lachte bisweilen sogar – ein Lachen, wie seine Schwestern sagten, das sich anhörte wie die Pflugschar, die seit einem Jahr nicht mehr geölt worden war.
    Lazarus war so ausgezehrt, so lustlos und dem Tode so nahe gewesen, dass seine Schwestern das, was Jesus bei ihm bewirkte, als Auferstehung bezeichneten. Jesus, so sagten sie, habe Lazarus von den Toten auferstehen lassen. Seither nehme Lazarus sein Leben in beide Hände und sehe wieder einen Sinn darin. Er selbst war so von Jesus überzeugt, dass er der Erste war, den ich aus vollem Herzen sagen hörte, Jesus sei der Messias. Damals hielt ich es für seine Art, seiner Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen. Niemals hätte ich gedacht, jemand könne das ernst meinen. Später fragte ich mich, ob Jesus ihm diese Lesart bei ihren stundenlangen Gesprächen über die alten Schriften und Prophezeiungen nicht vielleicht sogar selbst nahegelegt hatte.
    Mittlerweile waren wir häufiger unterwegs als je zuvor, praktisch ununterbrochen, nie alle zwölf auf einmal, aber zu sechst bis zehnt waren wir immer. Nur wer krank oder von seiner Familie nach Hause gerufen worden war, um irgendeine Arbeit zu verrichten, war nicht dabei. Manchmal unterstützten wir Jesus bei den Predigten, gingen ihm voraus und kündigten seine Auftritte an, manchmal verbreiteten wir seine Botschaft auf sein Geheiß hin eigenständig. Mein Talent als Prediger entsprach meiner Glaubenstiefe, die zu wünschen übrig ließ, aber damit stand ich nicht allein da. Jesus appellierte immer wieder an unseren Glauben. Der Glaube könne Berge versetzen. Wenn wir glaubten, könnten wir alles schaffen, ohne Essen überleben und übers Wasser wandeln. Immer wieder sagte er das, und ich war nicht der Einzige, der des Nachts Albträume hatte, in denen Jesus über den See ging und einem zurief, man solle Zebedäus’ Boot verlassen und zu ihm kommen. In meinen Träumen gehorchte ich, machte mich auf den Weg, aber nach wenigen Schritten begann ich unterzugehen. Dann wachte ich schweißgebadet auf und ruderte mit den Armen, rang um Atem und rief seinen Namen, damit er kam und mich vor dem Ertrinken rettete. Manchmal unterhielt ich mich mit anderen, die den gleichen Traum hatten, scherzhaft darüber; wir fanden es anmaßend und absurd, dass irgendjemand, Jesus eingeschlossen, übers Wasser wandeln könne.
    Jeder von uns hatte früher oder später eine Phase, in der er nicht in dem Maße

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