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Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. K. Stead
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ausgezeichnetes Gehör.
    »Er war nicht immer blind?«, fragte ich.
    »Nachdem er die Kreuzigung gesehen hatte«, sagte Esra, »wollte Gott nicht, dass er noch etwas anderes sieht.«
    Ich versuchte das zu verstehen, aber es gelang mir nicht. Bartolomäus war einer von denen gewesen, die das Weite suchten, als Jesus festgenommen wurde. Er hatte die Kreuzigung also keineswegs gesehen.
    Ich fragte, wozu die Geheimhaltung nötig sei.
    »Wir haben Feinde.« Esra machte ein betrübtes Gesicht. »Heute nicht mehr so viele wie einst, aber wir beschützen Ptolemäus, genau wie die anderen beiden Jünger, die überlebt haben.«
    »Nur zwei?« Gern hätte ich gefragt, wer sie waren, aber es war Esra sichtlich unangenehm, dass er bereits zu viel gesagt hatte.
    »Nur zwei«, bestätigte er. Dann wandte er sich von mir ab.
    Die Neuigkeiten aus Jerusalem waren verstörend. Die Römer hatten die Schlinge um die Stadt zugezogen. Ab und zu gelang jemandem die Flucht, nur wenige erhielten die Erlaubnis, geordnet durch die römischen Linien abzuziehen. Die Zustände innerhalb der Stadtmauern wurden mit Begriffen wie Revolution und Terror bezeichnet. Das Volk – der Plebs – hatte die Macht übernommen, aber es gab rivalisierende Gruppierungen, die von bekannten Rebellen angeführt wurden. Es lebten keine Römer mehr in der Stadt, aber auch keine wohlhabenden Juden. Zusammen mit dem größten Teil der Mittelschicht und den Tempelpriestern waren diese geflohen, oder man hatte ihnen vor Volkstribunalen den Prozess gemacht und sie exekutiert. Einige hatten überlebt, weil sie hoch und heilig schworen, sie seien immer schon gegen die Römer, die Herodes-Herrschaft und die Priester gewesen. Manche waren in die Stadtmiliz aufgenommen worden, die gegen die Römer kämpfte, und hatten anschließend heroische Angriffe gegen die Belagerer vor den Stadtmauern angeführt. Diese Angriffe jedoch endeten immer mit vernichtenden Niederlagen.
    Inzwischen gingen in der Stadt die Nahrungsmittel zur Neige. Tiere aller Art – Kamele, Katzen, Esel, Vögel, Ratten und Schlangen – wurden bereits geschlachtet, gegart und gegessen. Getreidevorräte, mit deren Hilfe man noch jahrelang die Belagerung hätte überstehen können, waren bei Kämpfen unter den rivalisierenden Gruppen verbrannt. Die Bevölkerung hungerte.
    Berichte von Männern machten die Runde, die in die Schlacht zogen, indem sie sich einen Weg durch die Toten vorangegangener Schlachten bahnten, doch wenn sie den hinter massiven Schilden verschanzten Römern entgegentraten, befanden sie sich auf blutüberströmten Straßen, sodass sie dauernd ausrutschten und kaum vorankamen. Täglich gab es Kreuzigungen von gefangenen Milizionären und flüchtenden Zivilisten – bis zu fünfhundert pro Tag. Die dafür benötigten Holzpfähle wurden bereits knapp, sodass man die Opfer schon an hölzerne Türen, Zäune oder Wände nagelte, in allen möglichen Positionen, kopfüber, horizontal, mit überlappenden oder ineinander verschlungenen Gliedmaßen, wie sie gerade am besten in die Lücken passten. Überall in der Stadt gab es Stellen, an denen sterbende Männer und Frauen stöhnend und schreiend im Todeskampf lagen.
    Wenn römische Soldaten während einer Schlacht müde wurden, Muskelkrämpfe oder Rückenschmerzen bekamen oder die Kraft ihrer Arme nachließ, durften sie sich zurückziehen und ausruhen. Doch in der Stadt wurden immer neue Kampftrupps gebildet, und die Furcht vor den Volkstribunalen war so groß, dass sich Männer freiwillig für die aussichtslosen Verteidigungsschlachten vor den Stadttoren rekrutieren ließen, immer in der Hoffnung, es könne ihnen gelingen, nur zum Schein in die Schlacht zu ziehen und in Wirklichkeit so schnell wie möglich ins Umland zu fliehen – was einigen wenigen auch gelang.
    Esra berichtete von einer Gruppe jüdischer Kaufleute, die zu der Zeit, als die Römer wohlhabende Juden noch unbehelligt, aber gegen horrende Bezahlung aus der Stadt abziehen ließen, genug Goldmünzen verschluckt hatte, um sich damit später in der Fremde ein neues Geschäft aufzubauen. Als sie die Linien der Römer hinter sich gelassen hatten, wurden sie jedoch von Beduinen überfallen, die geheime Reichtümer bei den Juden vermuteten und sie folterten, damit sie das Versteck preisgaben. Als ein Jude dann verriet, wo sich das Gold befand, wurden alle aufgeschlitzt, ausgeraubt und in der Nachmittagssonne liegen gelassen. Sogleich machten sich Schakale und Aasgeier über ihre Eingeweide

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