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Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. K. Stead
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glauben konnte, wie Jesus es verlangte. Wir versuchten unser Bestes, und manchen gelang es besser als anderen. Da ich von Natur aus ein Skeptiker bin, war ich wohl derjenige, dem es am wenigsten gelang.
    Diese Glaubensschwankungen unter Menschen, die ihm so nahestanden und die den von ihm gewählten Lebensstil bereitwillig teilten, erklären wohl, warum er Petrus, Jakobus und Johannes etwas anvertraute, das er uns anderen, die wir weniger stark im Glauben waren, vorenthielt. Nachdem wir Lazarus und seine Schwestern in Betanien besucht hatten, durchwanderten wir das Jordantal. Wir wollten nach Jerusalem und waren, da wir alle aus der Provinz stammten, entsprechend aufgeregt. Kurz bevor wir unser Ziel erreichten, stoppte Jesus das Vorhaben jedoch. Es schien, als befolge er Anweisungen von ganz oben oder als habe ihn plötzlich der Mut verlassen. Jedenfalls sagte er, wir sollten erst nach Jerusalem gehen, wenn wir vollzählig seien, und zwar anlässlich des Passahfestes.
    Also begaben wir uns wieder auf die Straße nach Galiläa. Jesus war missmutig und nachdenklich, vielleicht weil er die Heilige Stadt nun doch nicht zu sehen bekommen würde. Er lehnte seinen Anteil an einem üppigen Mahl ab, das eine Familie uns vorsetzte, deren kranken Säugling er angeblich geheilt hatte, und er sprach den ganzen Nachmittag kein Wort.
    Unser Weg führte um den Fuß eines Berges herum, und dort brach er plötzlich sein Schweigen, um eine erneute Planänderung zu verkünden. Wir sollten unser Lager aufschlagen, wo wir uns gerade befanden, und die Nacht in einer Berghöhle verbringen. Die bereits erwähnten drei sollten mit ihm ein Stück den Berg hinaufsteigen. Wir restlichen vier sollten aus unseren Proviantresten ein Mahl bereiten. Wenn er mit den dreien nicht bis Sonnenuntergang zurück sei, sollten wir nicht länger warten und mit dem Essen beginnen.
    Wir befolgten seine Anweisungen, und als es Zeit war, schlafen zu gehen, war von den anderen immer noch nichts zu sehen. Am nächsten Morgen berieten wir, ob wir an Ort und Stelle ausharren oder uns auf die Suche machen sollten. Da sahen wir sie plötzlich die beige- und mauvefarbene Bergflanke herabsteigen, bis sie die grün bewachsene, landwirtschaftlich genutzte Zone erreichten. Einer hinter dem anderen gingen sie durch die Kornfelder, Petrus vorweg, dahinter Jakobus, Johannes und Jesus.
    Wir gaben ihnen die Reste unseres Mahls, und sie griffen hungrig zu. Sie sagten nicht, wo sie gewesen waren oder was sie getan hatten. Die drei, die Jesus begleitet hatten, machten ernste Gesichter und schienen sich plötzlich furchtbar wichtig vorzukommen. Wieder einmal hatte Jesus Zwietracht gesät, indem er Einzelnen von uns seine Gunst schenkte und sie damit über die anderen erhob.
    Ich nahm in beiseite und fragte ihn, was geschehen war.
    Er schüttelte den Kopf. »Du wirst es rechtzeitig erfahren.«
    Ich fragte, warum nicht jetzt.
    Er sagte: »Du bist dafür noch nicht bereit.«
    »Im Gegensatz zu den anderen dreien?«
    Er neigte den Kopf. »Du bist nicht fest im Glauben, Judas.«
    »Du meinst, dass ich nicht leichtgläubig bin.«
    »Ich meine, dass du nicht unschuldig bist.«
    »Befriedigt es dich, wenn dir drei Dummköpfe bedingungslos glauben?«
    Er strich mir über den Arm. »Nur Geduld. Deine Zeit wird kommen.«
    Ich zögerte einen Moment, ehe ich einen Impuls in Worte fasste, den ich in diesem Moment nicht zum ersten Mal hatte (und nicht zum letzten Mal): »Ich glaube, ich habe genug von alledem.« Dummerweise entfuhr mir dieser Satz, ohne nachzudenken.
    Jesus sah mir in die Augen und nahm meine Hände. »Willst du mich verlassen?« Seine Augen füllten sich mit Tränen.
    Ich antwortete nicht, aber seine Reaktion überraschte mich. Und ich kam ins Wanken. Wohin sollte ich zurückkehren? Ins Haus meiner Mutter, mit all seinen Erinnerungen an Judith? Zu meinem Vater, wo mich nichts als Kälte, Ablehnung und Enttäuschung erwartete? Hier befand ich mich in einer Gemeinschaft, hier wurde ich, wie es schien, geliebt.
    Jesus fragte: »Mit wem soll ich mich dann unterhalten?«
    Ich erwiderte: »Mit den dreien, die du mit auf den Berg genommen hast.«
    Doch Jesus spürte bereits, dass ich meine Meinung geändert hatte. Er legte mir einen Arm um die Schulter und sagte: »Vertraue mir. Am Ende ergibt alles einen Sinn.«
    Er hat mir also nichts verraten. Aber sofort ging das Getuschel darüber los, was da oben auf dem Berg wohl geschehen war, und die Geschichten, die man sich erzählte, wurden

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